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B.
K u l t u r d u r c h d r i n g u n g e n u n d K u l t u r -
s c h e i d u n g e n
Tritt ein geschlossenes Gebäude von Gezweiungen und Anstalten
einem anderen gegenüber, so daß also zwei Völker und ihre Staa-
ten in eine dauernde innige Verbindung kommen, dann ergeben
sich Spannungen von Volk zu Volk, von Staat zu Staat, von Kultur
zu Kultur (ihrem Gesamtganzen oder doch wesentlichen Teilen
nach), welche in der Geschichte unter dem Namen von Kultur-
mischungen, Kreuzungen, Verschmelzungen oder auch Kulturdurch-
dringungen bekannt sind.
Die Kulturdurchdringungen gehören zu den größten Ereignissen
der Weltgeschichte. Sie sind aus der Geschichte nicht wegzudenken.
Ich sage nicht, daß jede Kultur durch Kulturdurchdringungen ent-
stehen muß oder entstanden ist; aber es gibt wohl kaum ein großes
Volk, dessen Geschichte nicht sichtbar durch Kulturdurchdringungen
hindurchführte. Denn überall, wo Einbrüche von Völkern erfolgen
(Kreuzzüge, Kriegszüge, Eroberungszüge), entstehen ganze Systeme
von Spannungen, die eine Kulturdurchdringung einleiten; überall,
wo Völkerwanderungen stattfinden, entstehen allumfassende Span-
nungen, die zu Kulturdurchdringungen führen; überall, wo
dauernde Unterwerfungen, Besetzungen größeren Stils erfolgen,
entstehen Spannungen, die zu Kulturdurchdringungen führen;
überall, wo Kastenbildungen stattfinden, überall, wo Völkerver-
pflanzungen und Siedelungen (Kolonisationen) größeren Stiles statt-
finden, entstehen Kulturdurchdringungsvorgänge; überall, wo /
auch nur Handelsberührungen größeren Stils, ferner Aus- und Ein-
wanderungen großen Stiles; endlich auch nur Adoptionen (von
Sklaven und Fremden), Freilassungen und Sklaveneinfuhr großen
Stiles stattfinden, entstehen Spannungen, die zu Kulturdurchdrin-
gungen oder Kulturscheidungen größeren oder kleineren Stils füh-
ren. Sogar überall dort, wo verschiedene Bildungsschichten ein und
desselben Volkes einander entfremdet gegenüberstehen, entstehen
Spannungen,
die
einer
inneren
Kulturdurchdringungsaufgabe
gleichkommen.