238
[272/273/274]
lichung gediehen. Zuerst pflegt sich dabei eine Erscheinung einzu-
stellen, die man eine K u l t u r Ü b e r d e c k u n g o d e r K a l t -
s t e l l u n g nennen kann, nämlich eine Überdeckung jener Gebilde
und Schichten, die von der Vereinheitlichung nicht ergriffen wur-
den, z. B. Recht, Brauch, Sprache, Kunstübung der ver- / drängten
Gruppen. Die Spannung zwischen den betreffenden Schichten bleibt
dann zwar zurück, aber nur verhalten, sie tritt nicht in Wirksam-
keit. Denn die kaltgestellte, gleichsam mumifizierte Kulturschicht
hat in ihrer Eigenart nur ein gemindertes Dasein. Wenn z. B. eine
Sprache nur noch als Mundart in abgelegenen Gegenden und nie-
deren Volksschichten weiterlebt, kann die Spannung zu der sie
überdeckenden Verkehrs- und Schriftsprache nur eine äußerst ge-
ringe sein. Das Bretonische in Frankreich war wohl bis vor kurzem
vom Französischen gänzlich überdeckt. Auch vom Ungarischen
und Tschechischen kann man sagen, daß sie in der nach-mariathere-
sianischen Zeit Österreichs nicht weit von diesem Punkte entfernt
waren, da die deutsche Sprache in Amt und Schule, in Gesellschaft
und Schrifttum einen vollen Sieg behauptete. Umgekehrt wird man
eine Überdeckung des Deutschen darin erblicken müssen, daß Leib-
niz französisch schrieb, Mozart italienische Opern vertonte (Folgen
des deutschen Zusammenbruches im 30jährigen Krieg).
Es kann aber der geschichtliche Augenblick kommen, wo die über-
deckten, schon halb mumifiziert geglaubten Gebilde und Schichten
wieder neues Eigenleben erhalten und selbständig hervortreten.
Dann haben wir den Vorgang der eigentlichen Kulturscheidung vor
uns. Entfernt kann er auch mit der „Aufspaltung“ im Sinne der
Mendelschen Gesetze verglichen werden (sofern man sich nämlich
das Aufgespaltene als im „Genotyp“ erhalten denkt). Das Unga-
rische und Tschechische trat hervor, heute beginnt auch das Breto-
nische hervorzutreten und sich von dem es überbauenden Volks-
tume zu scheiden. — Selbstverständlich kann aber auch eine Kul-
turscheidung stattfinden, bevor es zu einer vollen Uberdeckung und
gefährlichen Kaltstellung kam.
Daß jeder Scheidung infolge der mißglückten Vereinheitlichungs-
versuche ein ungeheurer K u l t u r v e r l u s t vorherging, ist eine
Grundtatsache der Geschichte. Wo Kulturdurchdringungen und
Kulturscheidungen, dort sind auch Kulturverluste. / Am fürchter-