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1. Begriffliche Betrachtung
Merkwürdigerweise hat man zwar Spannungen, die aus Um-
stürzen, Kriegen und wirtschaftlichen Brüchen (Krisen) entstehen,
im Schrifttum allerorten Aufmerksamkeit zugewendet, dagegen
jenen Spannungen der Weltgeschichte, die zu Kulturdurchdringun-
gen oder Kulturscheidungen führen, kaum nähere theoretische Be-
achtung geschenkt (Spengler hat die Kulturdurchdringungen sogar
geleugnet, indem er erklärte, keine Kultur verstünde die andere
und jede laufe nach ihren eigenen Naturgesetzen in sich selbst ab).
Nach den Religionsstiftungen und den großen metaphysischen
Wendungen ist nichts in der Weltgeschichte so bedeutend wie die
Kulturdurchdringungen; aber auch nichts gelingt so schwer wie die
Kulturdurchdringung großen Stiles. Daß dem so ist begreifen wir,
wenn wir den Ausgleich der Spannungen, die „Verschmelzung“ auf
den einzelnen Kulturgebieten betrachten. Eine Religions-„Ver-
schmelzung" erscheint umso schwerer möglich, je höher die Religion
steht, je einheitlicher und durchdachter ihre Gotteslehre ist. Denn
je mehr das der Fall ist, um so widerspruchsvoller werden fremde
Glaubenssätze wirken. Daher mag fast nur bei polytheistischen Re-
ligionen, die von Anbeginn das Vielerlei ermöglichen, Aussicht sein,
daß die Spannungen zwischen zwei Glaubenslehren ausgeglichen /
werden oder wenigstens als Glaube und Aberglaube übereinander-
geschichtet beisammen wohnen. Immer muß der Begriff des
„Pantheons" gefährlich erscheinen. — Ähnlich steht es bei zwei
Wissenschaftssystemen, die einander gegenüberstehen. Je geschlosse-
ner sie, sei es im Verfahren, sei es im Erkenntnisbestande, sind, um
so geringere Fähigkeit der gegenseitigen Durchdringung ist vor-
handen. Es kann nur das eine oder das andere Begriffsgebäude
siegen und bestenfalls Anregungen oder Bestandteile der Gegenseite
in sich aufnehmen. — Das gleiche zeigen die Kunststile, sofern
sie in sich geschlossen sind. „Stil“ ist ja als „durchgängige Ebenbild-
lichkeit“ der Glieder zu kennzeichnen
1
. Kunststil ist ja nicht nur
ein in sich geschlossenes Formensystem, wie besonders deutlich der
gotische Stil (neben anderen) zeigt; sondern beruht auch auf einer
bestimmten inneren Grundhaltung, einer bestimmten Welt- und
1
Vgl. mein Buch: Kategorienlehre (1924), 2. Aufl., Jena 1939, S. 171 ff.
[3. Aufl., Graz 1969, S. 159 ff.].