[279/280]
243
im schlimmen Sinne waren die eindringenden Germanen nicht — wie ja auch
des Tacitus Lob auf das Germanentum beweist, wie die Vandalen später bewie-
sen, die wie alle Germanenstämme den Römern in sittlicher Hinsicht weit über-
legen waren. Warum sprechen die Römer dennoch von Barbaren, warum hat es
die Geschichtsschreibung geglaubt, warum ist die Lehre von der „Kulturzäsur“
enstanden? Wie kommt man zu einer solchen Annahme bei so hoher Kultur der
Germanen, die in Wirklichkeit schon Menschenalter vorher den römischen Staat
mitbestimmten, ja ihn führen? Die Wahrheit ist, daß die sich entgegenstehenden
völkischen Kulturen einander zu fremd waren, daß die Kulturdurchdringung
zwischen Römern und Germanen nirgends gelang, vielmehr dauernd unfrucht-
bare Spannungen auslöste, welche fürchterliche K u l t u r v e r l u s t e b e i d e r
T e i l e bedeuteten. Die Westgoten z. B. bildeten nach der Landnahme eine eigene
kriegerische und staatlich-rechtliche Organisation neben und gegenüber der
römischen; die Ostgoten des Theodorich jedenfalls eine eigene kriegerische Or-
ganisation, während die staatliche Römern und Goten gemeinsam sein sollte;
die Langobarden behielten ihre eigene kriegerische und staatliche Lebensordnung
bei. In keinem dieser Fälle konnte die „Verschmelzung“ in dem Sinne gelingen,
daß eine neue höhere Einheit beider Kulturrichtungen entstanden wäre. Zwar
schlug zuletzt das Lateinertum durch und glich sich das Germanentum an.
A b e r d i e e i n e w i e d i e a n d e r e S e i t e w a r g e s c h w ä c h t , und
zwar das italische Lateinertum, weil schon vorher geknickt, wesentlich mehr als
das gallische.
Wie s o l l t e m a n a u c h d e n d a u e r n d e n i n n e r e n T i e f s t a n d
I t a l i e n s e r k l ä r e n , d e r w e i t b i s i n d a s M i t t e l a l t e r h i n -
e i n r e i c h t e ? Wie die unglaubliche Verkommenheit des Papsttums, die z. B.
Ottos I. Einschreiten allein möglich gemacht hatte; wie das Schweigen fast alles
geistigen Schöpfertums bis Dante? Ja in gewissem Sinne reichte dieser Verfall,
trotz der Renaissance, die fast nur ein Zwischenspiel blieb, bis in das neun-
zehnte Jahrhundert! Und es ist vielleicht nicht zu kühn, die heutige Erneue-
rungsbewegung des Faschismus in diesen geschichtlichen Gesamtzusammenhang
hineinzustellen. — Durch „Rassenverfall“ läßt sich der Tiefstand des romani-
schen Italien jedenfalls nicht erklären, denn gerade der große Zufluß von bestem
germanischem Blute bedeutete trotz asiatischer Sklaven doch eine wesentliche
Aufbesserung der Rasse und hätte sich deutlich geltend machen müssen (wieviel
man auch immer an „un- / günstigen Wirkungen der Rassenmischungen“ ab-
ziehen möge). Die Gründe sind daher geistige und der ursprünglichste unter
allen geistigen Gründen ist: daß beide Teile, der römische wie der germanische
eine tiefgehende Kulturschwächung durch die Kulturdurchdringung, die eben
nicht gelingen konnte, erfuhren. Die Römer mußten zuerst von den Goten,
später von den Langobarden jene unfruchtbaren Brüche mit ihren Spannungen
erfahren.
Auf der anderen Seite kann z. B. die Niederlage des kräftigen Volkes der
Ostgoten, das durch Theodorich eine großartige Erziehung genossen hat, nicht
anders erklärt werden als dadurch, daß dieses Volk bereits innerlich zerrissen
war; und zwar offensichtlich durch die zermürbenden Wirkungen der Kultur-
durchdringungsvorgänge, welche gerade durch Theodorich, der das Unvermeid-
liche voraussah, aufs gründlichste eingeleitet wurden.
Damals standen die germanischen und lateinischen Völker einander gegen-
über, mit ihren eigenen Lebens- und Rechtsordnungen, ihren eigenen Bekennt-
nissen (arianisch gegen katholisch), ihren eigenen Sprachen. Daß beide Völker
16*