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Was die i n n e r e G e s c h i c k t e d e s d e u t s c h e n V o l k e s selbst
betrifft, so wird viel zu wenig beachtet, daß sie in hohem Grade eine Geschichte
von Pflanzungen und damit wieder e i n e G e s c h i c h t e v o n K u l t u r -
d u r c h d r i n g u n g e n ist, die abermals in den verschiedenen Siedelungs-
gebieten und Siedelungsschichten verschieden aussieht. Nicht die Stammesglie-
derungen an sich, sondern die verschiedenen Kulturdurchdringungen, welche die
verpflanzten Stämme hinter sich haben, sind der tiefste Grund der starken in-
neren Gliederung des deutschen Volkes, die bis heute noch, im Zeichen des Welt-
verkehrs, andauert. Nur der allerkleinste Teil des deutschen Volkes, fast nicht
viel mehr als der Kern Niederfrankens und Nordsachsens ist unverpflanztes
Volk. Heute gilt: (1) Alles, was südlich des ehemaligen Limes — längs der
Rhein-Main-Donaulinie — liegt, ist Pflanzvolk (so daß also Alemannen, Schwa-
ben, Bayern, Südmainische Franken und Ostfranken bereits Pflanzvölker sind);
(2) alles, was östlich der Weser bis zur Saale und Elbe, sowie etwa zwischen
Passau und Enns liegt (Ottonische Ausbreitung), ist Pflanzvolk; und (3) alles,
was östlich der Elbe und östlich der Enns liegt (bis zur Leitha und darüber
hinaus — spätere Ausbreitung der nördlichen und südlichen Ostmark) ist Pflanz-
volk; Pflanzvolk, das teils romanisierte Bevölkerung und Kultur, teils slawische
Bevölkerung und deren Kultur vorfand und dementsprechend unter mehr oder
weniger tief greifende und schwer ausgleichbare Spannungen geriet. — Daß die
Kulturdurchdringungen, die hier zu vollziehen waren, schließlich gelangen, war
keineswegs eine selbstverständliche und leichte Sache. Allerdings war die Aufgabe
dadurch leichter als bei Goten, Langobarden und Westfranken, daß die Eroberer
hier nicht wie dort einer Bevölkerung gegenüberstanden, deren politisches Orga-
nisationswesen, Rechtswesen und Kultursystem bestehen blieb; vielmehr wurden
die Überwundenen entweder vertrieben oder verknechtet und die Eroberer
siedelten sich in geschlossener Weise an, daß heißt sie bildeten im engeren
Sinn einen Pflanzstaat, / keinen Erobererstaat, keine bloße Herrenschicht. Selbst-
verständlich ist dabei, daß die Kulturdurchdringung den Slawen gegenüber, als
den kulturell Schwächeren, leichter gelingen mußte. Aber Änderungen des in-
neren Gepräges des betreffenden Stammes und Staates sind gleichwohl unver-
meidlich.
Es ist eine merkwürdige Tatsache der deutschen Geschichte, daß die zwei gro-
ßen östlichen Pflanzstaaten, B r a n d e n b u r g - P r e u ß e n i m N o r d e n ,
Ö s t e r r e i c h i m S ü d e n , später zu den mächtigsten Gliedstaaten des Rei-
ches werden und die Führung übernehmen. Die Verschiedenheit, wie beide ge-
gründet und entfaltet wurden, und welch verschiedene Kulturdurchdringungs-
aufgaben beide durchzuführen hatten (da beide nicht den gleichen Völkern ge-
genüberstanden) ist sowohl für ihre geschichtliche Stellung, wie für ihr inneres
geistiges und politisches Gefüge maßgebend geworden. Brandenburg-Preußen
beruht auf dem Verfall der Macht Schwedens, dem Verfall Polens, langer Ver-
wahrung des Heidentums durch die ostelbischen Ureinwohner, was der Grün-
dung ein geistliches Gepräge gab und die Möglichkeit bot, den deutschen Ordens-
rittern einen Teil der Unterwerfungs- und Pflanzungsarbeit zu übergeben; was
auch die Kulturdurchdringung insoweit erleichterte, als zum Teil Ausrottung der
Vorbewohner und Abweisung des Miteinanderlebens die Folge war. — Anders
in Österreich. Österreich beruht in der späteren Zeit auf der Türkennot der
Ungarn, der Autorität des römisch-deutschen Kaisertums, das mit der habsbur-
gischen Herrschaft verknüpft war. — Gemeinsam ist dagegen beiden Pflanzstaa-
ten, daß sie n i c h t m i t i h r e m G e s a m t g e b i e t e G l i e d s t a a -