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Sprache vollziehen. Karls des Großen geflissentliche Pflege der ger-
manischen Denkmäler (Sammlung der Heldenlieder, Grammatik
der deutschen Sprache und anderes) sucht hier offenbar jene Stetig-
keit herzustellen, die bei der gleichzeitigen Notwendigkeit, das Gei-
stesleben in lateinischer Sprache sich abwickeln zu lassen und auf
die alten griechisch-römischen Bildungsgüter zu gründen, eben noch
zu erreichen war. — Der Rückschritt, den die frühmittelhochdeut-
sche Sprache gegenüber der althochdeutschen ohne Zweifel darstellt,
zeugt von jenen inneren Kämpfen und den g e i s t i g e n V e r -
l u s t e n , die sie mit sich brachten.
Daß also im deutschen Bereiche eine ähnliche geistige Kulturdurchdringungs-
aufgabe bestand wie im romanischen ist als wesentlich festzuhalten, wenn man
den Verlauf der späteren Geschichte verstehen soll. Aber nach der staatlichen
Seite und nach der völkischen Seite, sowie nach der sprachlichen Seite hin be-
stand allerdings diese Aufgabe nicht. Der Bestand der Bevölkerung blieb ent-
weder gänzlich der gleiche (im Norden) oder wenigstens größerenteils (bei den
Südstämmen), die Sprache wurde keine Mischsprache, sondern in ihrer Reinheit
behauptet. Dadurch fielen die von Staat, Recht, Sprache und Rasse ausgehenden
stärkeren und schwer überwindlichen Spannungen für den deutschen Bereich aus,
während sie für die Germanen des Westens, Italiens, Spaniens in voller Schärfe
weiterbestanden. D i e s e u n g e h e u e r e E r l e i c h t e r u n g d e s A u f -
n e h m e n s d e r c h r i s t l i c h - r ö m i s c h e n K u l t u r i s t
e s , w e l c h e u n s v e r s t ä n d l i c h m a c h t , d a ß n i c h t d e r a n
V o l k s z a h l u n d H i l f s m i t t e l n ü b e r l e g e n e w e s t f r ä n k i -
s c h e n o c h d e r i t a l i e n i s c h e T e i l d e s R e i c h e s s p ä t e r d i e
F ü h r u n g E u r o p a s ü b e r n i m m t , s o n d e r n d e r s c h w ä c h e r e ,
k l e i n e r e , i n S t ä m m e a u s e i n a n d e r s t r e b e n d e , v o n
S l a w e n u n d M a g y a r e n s c h w e r b e d r ä n g t e , r e i n g e r m a n i s c h
g e b l i e b e n e
T e i l .
Die führende Stellung des damals so kleinen Deutschland ist wesentlich da-
durch zu erklären, daß sich seine Kulturdurchdringungsaufgabe auf das Geistige
beschränkte, während ihm, wie gesagt, die aus der staatlich-rechtlich-sprachlichen
Durchdringung hervorgehenden ungeheuren Spannungen erspart blieben. So
konnte, so mußte ihm als dem allein gesund gebliebenen Volke der damaligen
Christenheit die Führung vor den andern zufallen. Dabei war Frankreich unter
den romanischen Ländern das überlegenste Land. Wie seine Sprache vor anderen
romanischen die aus- / gebildetere Formenwelt zeigt (also beweist, daß die Ver-
mischung dort geistig nicht soviel zerstörte wie in den anderen romanischen
Ländern), so auch sein politisches Dasein. Der Hauptgrund für seine politische
Überlegenheit war, daß ein hinlänglich zahlreicher germanischer Adel das ge-
samte staatliche Leben leitete, wodurch sich ein immerhin einheitlicher Führer-
stand bildete, der eine gewisse Stetigkeit inmitten aller Brüche und Spannungen
gewährleistete (dieser Adel wurde erst 1789 beseitigt). — Der Umstand, daß die
Franken von Anbeginn als Katholiken, nicht als Arianer, den römischen Völkern
gegenübertraten, ließ ebenfalls eine der Spannungen wegfallen, welche die Kul-
turvereinheitlichung von Anbeginn erschwerten.