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in Wahrheit dem Volke nichts bieten können, ausgleichen kann, ist klar. Diese
Spannung kann weniger vom Volke aus, sie muß von oben hinab, das heißt
von einer Gesundung, einer Vervolkstümlichung der Bildungsinhalte aus gelöst
werden. Echte Poesie, echte Musik, metaphysische Kunst ist dem Volke nicht
unverständlich. Und so auch nicht echte Wissenschaft, nämlich e i n e s o l c h e
W i s s e n s c h a f t , d i e s i c h w i e d e r d e m E i n f l ü s s e d e s M e t a -
p h y s i s c h e n ö f f n e t . Zuletzt kann allerdings nur eine Einheitskultur die
Spannungen überwinden und die Durchdringung aller Schichten vollbringen.
Ohne Einheitskultur kann eine Gesellschaft auf die Dauer nicht leben. Nichts
ist bezeichnender, als daß sowohl im neuen Italien wie im neuen Rußland in der
Erziehung der Jugend und in der Herrschaftsorganisation des Staates auf ein
durchaus einheitliches Kulturleben hingearbeitet wird. Je mehr die Einheits-
kultur gewonnen wird, um so mehr wird auch wieder die unorganische Sonder-
stellung und Sonderentwicklung der einzelnen Kulturgebiete — Wissenschaft,
Kunst, Staat, Wirtschaft — rückgängig gemacht werden.
Eine Spannung ähnlicher Art entsteht dadurch, daß gewisse Teile der Bevöl-
kerung anderen n i c h t g l e i c h g e s t e l l t sind, ohne daß doch eine formelle
Bevorrechtung (die dann ja in der Regel auch mit größeren Pflichten und Lasten
verbunden wäre) einträte. Minderheiten, Fremde, Nichtzünftige, Nichtadelige
bilden die Hauptbeispiele.
Was die Minderheiten betrifft, so ist zwischen völkischen und religiösen zu
unterscheiden. Die Deutschen in der Tschechei z. B. sind heute / praktisch min-
derberechtigt. — Ferner bestehen zwischen Protestanten und Katholiken, zwi-
schen Juden und Christen zum Teil solche Spannungen. Sind diese Spannungen
nicht allzu groß, so bewirken sie eine geistige Regsamkeit und und ein Zusam-
menhalten jener, die benachteiligt werden oder sich benachteiligt glauben. Be-
sonders kann man die Fruchtbarkeit dieser Spannung bei solchen völkischen
Minderheiten (oder an Sprachgrenzen) bemerken, wo die Unterdrückung nicht
allzu groß und die geistige Unterstützung durch das eigene Volk im Hinterlande
hinreichend ist. Dort findet man oft einen gewissen Schwung, ein gehobenes
Volksleben, wie es im Innern des deutschen Volksgebietes kaum anzutreffen ist.
Das Leben der nicht vollkommen gleich Berechtigten hat überall etwas Gewag-
teres, Angespannteres als das der anderen und diese Spannungen wirken sich
meistens fruchtbar aus, holen mehr aus den Menschen heraus, bringen ihnen
auch innere Erlebnisse und geistige Hebung. — Die meisten Binnendeutschen
haben noch heute keine Vorstellung von den viel größeren Anspannungen, zu
denen ihre Volksgenossen an den Sprachgrenzen oder unter fremder Herrschaft
genötigt sind.
Über die Nicht-Gleichstellung hinaus gehen U n t e r d r ü c k u n g u n d
V e r f o l g u n g . Auch hier können bei genügender Kraft der Verfolgten Span-
nungen geweckt werden, und wenn es um eine hohe Sache geht, sogar Spannun-
gen höchster Art. Eine Bemerkung des jüngeren Fichte, die vielleicht durch
Tiecks meisterliches Bruchstück „Der Aufstand in den Cevennen“ angeregt sein
mochte, kennzeichnet treffend die Sachlage. „Bei allen religiösen Verfolgungen,
soweit die Geschichte sie kennt, bis auf die Cevennenkriege herab, tritt ein
seherisches, elastisches Element als sehr erklärbare Nebenerscheinung ihnen
zur Seite. Während in einer feindseligen Welt den Verfolgten nur Kampf und