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Untergang droht. . . kommt ihnen eine Tröstung aus seliger Höhe, die innere
Welt öffnet sich ihrem Auge“
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Von hier aus scheint sich auch die geheimnisvolle S t e l l u n g d e r A u ß e n -
s e i t e r in der Geschichte, die oft bemerkt wurde, aufzuklären. Der Außenseiter
unterliegt schon als Minderberechtigter einer Spannung, die der Begabte frucht-
bar machen kann.
Die Geschichte zeigt, daß auf allen Gebieten der Wissenschaft, Kunst, Geistes-
geschichte, Staatengeschichte, des Kriegswesens, der Technik bedeutende Leistun-
gen durch Menschen, die nicht „Fachleute“ waren, nicht der „Zunft“ angehörten,
vollbracht wurden, also durch Selbstlerner, Unzünftige, „Autodidakten“. Von
ihnen gehen oft die größten Änderungen in / der Geschichte aus. Napoleon war
kein gelernter König, seine Heerführer zum Teil aus dem Mannschaftsstande
emporgestiegen. Michael Faraday, der größte Physiker, begann seine Laufbahn
als Laboratoriumsdiener; Friedrich Schlegel, ein Literat, entdeckte die indoger-
manische Sprachenfamilie und begründete dadurch eine neue geschichtliche
Geisteswissenschaft; Georg Friedrich Grotefend, ein Gymnasiallehrer, entzifferte
die altpersische Keilschrift; der Arzt Robert Meyer stellte den Energiesatz auf;
Georg Friedrich Schliemann, Josef Arthur Graf von Gobineau und Ferdinand
Gregorovius waren Außenseiter in der Geschichte, Pfarrer Sebastian Kneipp in
der Medizin. Fast die gesamte Geschichte der Volkswirtschaftslehre und Gesell-
schaftslehre ist von Nichtfachleuten gemacht worden: Francois Quesnay war
Arzt, David Ricardo Bankmann, Robert Thomas Malthus Pfarrer, auch Adam
Müller, Johann Heinrich von Thünen, Friedrich List, Henry Charles Carey, John
Ruskin, Thomas Carlyle waren keine zünftigen Fachgelehrten. Ähnlich wurde
die gesamte naturalistische Soziologie von Nichtfachleuten — z. B. Claude Henry
de Rouvroy = Graf von Saint-Simon, Auguste Comte, Herbert Spencer — be-
gründet. Daß viele Wirtschaftsführer, Millionäre, Erfinder arm und unausgebildet
begannen, ist allbekannt.
Betrachtet man die Erscheinung des Außenseiters unter dem Gesichtspunkte
der Spannungen, so findet man, daß er schon infolge des Mangels an Schulung
von Anfang an unter einer gewissen Spannung, der S p a n n u n g d e r U n -
z u l ä n g l i c h k e i t steht. Er ist in dem seiner Begabung nicht angemessenen
Berufe unzufrieden. Wenn die Begabung groß ist, bricht sie durch und eignet
sich die nötige Schulung nachträglich an. Aber gerade dadurch entgeht der
Außenseiter vielfach dem Unlebendigen, Unfruchtbaren, das oft in zünftiger
Bildung und Bindung der Fachleute liegt. Er steht den Tatsachen frischer und
unbefangener gegenüber und ist der Eingebung freier geöffnet.
Enge Verwandtschaft mit den Außenseitern haben die n i c h t h e r k ö m m -
l i c h b e s t e l l t e n F ü h r e r i m G e g e n s a t z e z u d e n h e r k ö m m -
l i c h b e s t e l l t e n auf allen Gebieten. Der auf dem nicht gewöhnlichen Wege
in das Offizierskorps Eingedrungene (vor dem Kriege z. B. der nicht durch
die Kadettenschule, sondern durch das Freiwilligenjahr gegangene Offizier) oder
der in feudalen Zeiten in die Schichten und Führerstellen des Adels Eingedrun-
gene, der in gesellschaftlichen Schichten Emporgekommene, der „nicht für voll“
galt — sie alle waren in ihrer Weise auch dann mehr oder weniger Außenseiter,
wenn sie die formelle Eigenschaft des Fachmanns schließlich erlangt hatten.
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Immanuel Hermann Fichte (der Jüngere): Vermischte Schriften, Bd 2, Leip-
zig 1869, S. 148.