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3.
Über einige innergesellschaftliche Spannungen nach Art der
Kulturdurchdringung
Auch andere Spannungen nach Art der Kulturdurchdringungen,
die in bestimmten baulichen Eigenschaften der Gesellschaft ihre
Grundlage haben, spielen in der Geschichte eine Rolle. Die Span-
nungen zwischen großen Bevölkerungs- und Bildungsschichten
(soziale Frage), zwischen Nichtgleichgestellten und Gleichgestellten,
Verfolgern und Verfolgten, Zünftigen und Außenseitern, erzoge-
nem Führertum und wildgewachsenem Führertum seien aus vielen
ähnlichen herausgehoben und im folgenden kurz besprochen.
Alles was man „ s o z i a l e F r a g e “ im weiteren Sinn nennt, ist als Span-
nungszustand zwischen verschiedenen Schichten der Bevölkerung zu verstehen.
Diese Spannungen sind aber aus dem Schrifttum so bekannt, daß wir uns dabei
nicht aufzuhalten brauchen. — Auf jene ungeheuren und vielfältigen Spannun-
gen, die in einer zerrissenen Kultur wie der heutigen zwischen den v e r s c h i e -
d e n e n g e i s t i g e n S t r ö m u n g e n aller Art in Religion, Wissenschaft,
Kunst, Sittlichkeit und Staatsleben sich ergeben, habe ich an einem anderen Orte
hingewiesen
1
. Diese Spannungen sind so groß, daß eine herrschaftsmäßige Orga-
nisation des Lebens nötig ist, um sie niederzuhalten. — Nur über die Spannung
zwischen den B i l d u n g s s c h i c h t e n mögen noch einige Worte hinzugefügt
werden.
Die aus dem Gegensatze der sogenannten G e b i l d e t e n z u d e n U n g e -
b i l d e t e n sich ergebenden Spannungen bedeuten soviel, daß sich daraus die
Aufgabe einer Kulturdurchdringung im Innern des eigenen Volkes und Staates
ergibt. Äußerlich kommt diese Spannung in dem Gegensatze von Volkssprache
und hochdeutscher Gemeinsprache zum Ausdrucke; innerlich in dem Gegensatze
der Wertungen, der Weltanschauung. Hier / ist der entscheidende Punkt der
Spannung der, daß die Gebildeten heute weit mehr dem Atheismus anheim
gefallen sind als die breiten Mengen des Volkes, besonders des bäuerlichen Vol-
kes. Ferner sind die Gebildeten in künstlerischer Hinsicht weit mehr den auf-
lösenden, naturalistischen, das heißt in ihrem Innersten kunstfeindlichen Be-
strebungen der modernen Richtungen untertan, als das Volk, das, besonders in
Musik und Poesie, noch immer einen Grundstock unverdorbenen Instinktes sich
bewahrt hat. Der Gegensatz, der heute zwischen Volkskunst (soweit sie noch
besteht) und „höherer“ Stilkunst wirksam ist, spricht fast durchaus zu ungun-
sten der „höheren Kunst“, die oft krankhaft ist (Atonalismus, Kubismus, Dadais-
mus, um nur an einiges zu erinnern). Kasperltheater und Wurstelprater stehen
in Wahrheit turmhoch über dem angefaulten Kunstschauspiel der ersten Groß-
stadtbühnen. Auf tiefer Ebene finden sich beide Schichten heute nur im — Kino.
Daß man Spannungen solcher Art weder durch die „Einheitsschule“, die an
sich sehr günstig wirken würde, noch durch sogenannte „Volkshochschulen“, die
1
Vgl. mein Buch: Gesellschaftslehre (1914), 3. Aufl., Leipzig 1930, S. 229 ff.
und 240 ff. [4. Aufl., Graz 1969, S. 279 ff. und 292 ff.].