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leidet unter geringem Geburtennachschube, so das alte Griechen-
land seit dem peloponnesischen Kriege, das alte Rom, heute außer
Frankreich ganz West- und Mitteleuropa. Indessen ist das Nach-
lassen der Geburtenzahl nicht überall in gleichem Maße ein Ver-
fallszeichen und man muß sich hier vor schnellen Verallgemeine-
rungen am meisten hüten.
Dem Alter liegt vor allem die Fortleitung der Überlieferung ob.
Was das Alter angesammelt hat an Einsicht und Können wird nicht
nur in der Kinderstube, nicht nur in der Schule, nicht nur in der
Handwerkslehre an die Jugend weitergegeben, sondern im gesam-
ten Leben bis zum Grabe. Stillschweigend und unaufhörlich durch-
setzt das Alter alle Lebensgebiete mit seinen unsichtbaren Erzie-
hungseinflüssen. Je nachdem nun viel Alter oder viel Jugend da ist,
wird das Alter als Vorbild und Uberlieferungsträger verschiedene
Bedeutung haben und wird daher die Aufgabe der Eingliederung
des neuen Geschlechtes in die bisherige Kultur verschieden lösen.
In einem stärker mit alten Jahrgängen besetzten Gemeinwesen ma-
chen sich die Eigenschaften des Alters, in einem stärker mit jugend-
lichen Jahrgängen besetzten Gemeinwesen die der Jugend geltend.
Während der Jugend neben der stärkeren Aufnahmsfähigkeit vor
allem etwas Vorwärtsdrängendes, Leidenschaftliches und die Rich-
tung auf das Begehrensvermögen, auf die äußere Welt eigen ist,
schlägt die Seele im Alter eine mehr nach innen gekehrte Richtung
ein. Der Geist ist durch die Leiblichkeit und Weltlichkeit hindurch-
gegangen, er folgt immer mehr / dem Zuge nach dem Höheren.
Daher das gleichsam Schlafwachende, Hellseherische des Alters. Im
Alter bricht Neues auf. (Allerdings hat das Alter auch seine be-
sondere Weise der Entartung: Herzenskälte infolge der Enttäu-
schungen des Lebens, Eigensucht, Berechnung.) — Denkt man einer-
seits an Spätrom, andererseits an die aus Jungmannen bestehenden
Gefolgschaftstaaten der „Völkerwanderung“ (Odoaker) und an die
mit Jugend überfüllten Pflanzstaaten, so wird klar, daß die Zu-
sammensetzung der geschichtlichen Gebilde aus vorwiegend jungen
oder alten Menschen nicht gleichgültig ist.
Außer dem Bevölkerungsaufbau kann hier auch die Person des
Führers und Herrschers maßgebend sein. Ein alter Herrscher be-
günstigt naturgemäß alte Leute und durchsetzt mit ihnen die
Führerschichten, was auf das Staatsleben nicht ohne nachhaltigen