[296/297]
257
aussetzungen anzuknüpfen. Aber gerade das ist unmöglich und noch nie dage-
wesen in der Geschichte. Alle Geschichte beruht auf Anknüpfung, alle Umglie-
derung setzt ein früher Entfaltetes, alle Gründung ein früher Gegründetes vor-
aus.
Diese Gefahr, das Nichtanknüpfen an Vorhandenes kann man nicht dadurch
bannen, daß sich das Alter der Jugend aufdrängt. Steht es auch fest, daß die
alten Jahrgänge versagten, so ist es gleichwohl eine verkehrte Welt, wenn das
Alter die Jugend bittet, sie noch mitarbeiten zu lassen, wie das zuweilen ge-
schieht.
Not tut ein anderes: daß man der Jugendbewegung eindringlich sage und
Vorhalte, wie unzulänglich, brüchig, ja nichtig sie selber sei. Alle großen geisti-
gen Erneuerungsbewegungen sind wohl „Jugendbewegungen“ gewesen, wenn
man so sagen will. Wenigstens waren der Sturm und Drang, war die Klassik,
war die Romantik eine Jugendbewegung. Der Jenenser Romantikerkreis: die
Gebrüder Schlegel, Schelling, / Novalis, Tieck, Fichte — sie waren alle junge,
zum Teil blutjunge Leute. Aber was geschah in diesem Kreise? Um die höchsten
Fragen des Geistes, der Kunst, der Philosophie, des Lebens mühten sich diese
jungen Menschen ab. Und sie kamen zum Ziele, sie überwanden, was ihre Väter
und Vorväter nicht zu überwinden vermochten: die Aufklärung, den Liberalis-
mus, den Empirismus und den Rationalismus! Sie überwanden diese riesen-
haften geistigen Mächte unter Ringen und Zweifeln und durch Erlebnisse, die
sie bis zum Grunde erschütterten.
Ja, diese „Jugendbewegung“, die Romantik hieß, spielt in den höchsten Ge-
bieten des Geistes, aber sie war eine Bewegung von o b e n h i n u n t e r .
Und die heutigen? Sowohl der „Wandervogel“ vor dem Kriege wie der neue
nach dem Kriege, sowohl seine sozialistischen wie seine völkischen, wie seine
katholischen Aufspaltungen — sie waren Bewegungen von u n t e n h i n a u f ,
sie waren und wollten Massenbewegungen sein. „Von unten hinauf“ ist aber
noch nie etwas Gutes geworden in der Geschichte. Die Laute zu nehmen und
in den Wäldern zu schweifen ist ursympathisch und als eine natürliche Regung
des Gemütes zu preisen. Aber daraus eine Lebensbewegung, einen lebensgestal-
tenden Gedanken zu machen — dazu reicht es nicht nur nicht, es ist an solcher
Uberhebung etwas Kernfaules. Dem vermessenen Wollen folgt auf dem Fuße
die Ohnmacht des Herzens. — Soll aus diesen Jugendbewegungen etwas werden,
dann muß man ihnen klarmachen, daß man zwar notwendig mit einer Ver-
neinung, einem Bruche beginnen müsse, um einen neuen Anfang zu machen;
daß aber an diesem Anfange Stehenbleiben heißt: Unvermögen zur Vertiefung,
zur Weiterbildung und Entfaltung.
Nur indem der menschliche Geist von Vertiefung zu Vertiefung schreitet,
erlebt er wahrhaftig und ist kräftig, die Wirklichkeit zu gestalten und zu
meistern. Wenn die Jugendbewegung die Kraft der inneren Vertiefung nicht
findet, ist sie schlechter als die alten Lauwarmen, die liberalen Philister und die
Konservativen, die wenigstens noch nach dem nicht fragten, was sie nicht ver-
standen, und an dem nicht rüttelten, was stärker war als sie.
Wo einen Ausweg finden aus diesem furchtbaren Spuk, der nun s e i t
d e m „ j u n g e n D e u t s c h l a n d “ ( 1 8 3 0 ) d e r E r n s t d e r d e u t -
s c h e n G e s c h i c h t e w u r d e ? Ist es doch, als ob böse Mächte aus den
trüben Tiefen der Geschichte heraufwirkten, denen alles zum Opfer fällt! Diese
„Jugend“ geht durch alle Lager hindurch und zeigt überall die gleichen Schwä-
17 Spann 12