266
[307/308]
allerdings schwer vorstellen kann). Jene „Austrocknung“, selbst wenn sie schnell
und umfassend genug erfolgt wäre, was aber entschieden zu bestreiten ist, hätte
von sich aus nichts bewirkt, was jenen geschichtlichen Vorgängen zu vergleichen
wäre. Gewiß sind die Naturereignisse wichtige Vorbedingungen, Unterlagen
und Werkzeuge geschichtlichen Geschehens; aber der Geist benützt und bewegt
sie, er bestimmt sie, bewirkt sie sogar zum Teil und behauptet auf beide Weise
den Vorrang.
Der Geist arbeitet sowohl nach Umwelt wie Rasse in der Geschichte stets
mit dem Stoffe, den er vorfindet oder hervorlockt. Die Umwelt ist nicht nichts,
und nur weil sie dies ist, kann sie Grundlage einer Spannung sein. Gebirge und
Meere haben ihren genius loci, aber der Geist behauptet den Vorrang.
Auch sonst pflegen die umweltlichen Bedingungen des geschichtlich-gesell-
schaftlichen Lebens überschätzt zu werden. Das zerrissene G e b i r g e soll in
Griechenland und in der Schweiz den „Kantönligeist“ erzeugt haben — warum
aber nicht in den übrigen Alpen ebenso wie in der Schweiz? Warum nicht eben-
so in Mazedonien, wie in Griechenland? — Oder: die Alpen und Pyrenäen sol-
len den „ L e b e n s r a u m “ der Deutschen und Franzosen abgrenzen. Aber
die Westgoten sind über die Pyrenäen gestiegen und haben ein Reich dies- und
jenseits dieser „Grenze“ gegründet. Die Germanen stiegen von den Cimbern und
Teutonen bis zu den Langobarden über die Alpen. Für die Römerzüge der
deutschen Kaiser waren sie kein Hindernis — all das, was die alte „ A n t h r o -
p o g e o g r a p h i e “
1
und die neue „Geopolitik“ an Gesetzlichkeiten aufstell-
ten, hält nicht vor.
Wir bezeichnen die aus dem Altersaufbau der Bevölkerung, der
Rasse und am meisten die aus der Umwelt kommenden Spannungen
als vorbedingende oder artfremde Spannungen, indem wir ihnen
die arteigenen Spannungen des Geistes selbst, / nämlich die inner-
gesellschaftlichen, die den Vorrang haben, entgegenstellen. Aber ein
Vorrang ist nur dort möglich, wo eine gewisse, wenn auch vermit-
telte Einheit besteht. Auf diese vermittelte Einheit, die sich am
deutlichsten in der Einheit des gesamtorganischen Lebens mit dem
Gesamtgeistigen aufdrängt, sei im folgenden noch hingewiesen.
C. B e m e r k u n g e n ü b e r d i e E i n h e i t d e s o r g a n i -
s c h e n L e b e n s , g e g r ü n d e t d u r c h d i e E i n h e i t
d e s G e i s t e s l e b e n s
Der Mensch kann unendliche Fortschritte in der Erkenntnis von
Gesellschaft und Geschichte machen, wenn er sich nur Eines abge-
1
Friedrich Ratzel: Anthropogeographie (1882 und 1891), 3. Aufl., Stuttgart
1909.