I.
Das Begriffsgebäude des Empirismus
V o r b e m e r k u n g e n ü b e r d i e B e z e i c h n u n g
„E m p i r i s m u s“
Was hier als Empirismus im weitesten Sinne des Wortes bezeichnet
wird (von griechisch empeiria, Erfahrung, émpeiros, kundig), heißt
sonst auch wohl: „Realismus“ oder „Naturalismus“. Doch sind diese
Namen vieldeutig, daher wir uns hier näher darüber erklären müssen.
Das Wort „ R e a l i s m u s “ (von lateinisch res, Sache; neulateinisch realis,
wirklich) wird zwar so allgemein gebraucht, daß es auch den Materialismus um-
faßt, wobei es besagen will, daß es sich um die reale, sinnlich erfaßbare, vor allem
stoffliche Seite, nicht um die geistige, ideale Seite der Welt handelt, ist aber nicht
brauchbar. Denn „Realismus“, wörtlich Sachlichkeitslehre, kann ebensogut die
Lehre von der Wirklichkeit des Stofflichen (Materialismus) oder der bloßen
Erfahrung (Empirismus) oder der äußeren Natur (Naturalismus), aber sogar auch
— des Geistigen sein! Daher bedeutet denn auch „Realismus“ in der mittelalter-
lichen Philosophie die alleinige Wirklichkeit (Realität) des Geistigen, der Idee im
platonischen Sinne, die als Allgemeines oder Gattung den einzelnen Exemplaren
(Individuen) einwohnt: S c h o l a s t i s c h e r „R e a
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i s m u s“. Dieser bedeutet
also objektiven I d e a l i s m u s
1
.
Wenn ferner das Wort „Realismus“ nicht in dem allgemeinen Sinne eines
Materialismus, sondern so gebraucht wird, daß es besagt: die Einzeldinge (res),
zum Beispiel eine Eiche, seien „Substanzen“ (seien das Reale), wie das Johann
Eduard Erdmann
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tut, — dann verstößt auch dieser Sprachgebrauch gegen den
genannten mittelalterlichen, der gerade die Lehre von der Wirklichkeit (Realität)
des „Allgemeinen“, zum Beispiel der Eichenheit, „Realismus“ nannte, dagegen
jene von der alleinigen Wirklichkeit des Einzelnen, zum Beispiel der einzelnen
Eiche (das ist der Unwirklichkeit des Allgemeinen) „N o m i n a l i s m u s “ (von
lateinisch nomen, der Name), das heißt das Allgemeine — „Eiche“ — sei nur Name,
nicht wirklich. /
Das Wort „N a t u r a l i s m u s “ wäre heute wohl unmißverständlich, ist aber
streng genommen nur dort im empiristischen Sinne verwendbar, wo die Natur
materialistisch und mechanistisch aufgefaßt wird. Wo aber die Natur geistbestimmt
und theologisch aufgefaßt wird, wie in allen idealistischen Systemen, dort muß
sich die innere Bedeutung des Wortes „Naturalismus“ mit dieser seiner heutigen
Anwendung in Widerspruch setzen.
1
Siehe unten S. 165.
2
Johann Eduard Erdmann: Grundriß der Geschichte der Philosophie, Bd 2,
3. Aufl., Berlin 1878, S. 78 und öfter.