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Eingebung unmittelbar Erschauten vermittelt, entweder begrifflich

im Denken oder künstlerisch im Gestalten.

Das angeführte Beispiel des Zimmers kann man ebenso auf hohe

wissenschaftliche Begriffe wie Sein oder Tugend als auf alltägliche

Dinge wie Kleider oder Bücher anwenden. Es ist immer derselbe

Sachverhalt, daß nämlich der Blick des Ganzen, die unmittelbare

Schau, vorangehen muß, um die Besonderheiten und Einzelheiten

aufzunehmen und zu vermitteln, nicht umgekehrt. Man kann sich

die Grund- und Urkraft des Schauens nicht allgemein und einfach

genug vorstellen. So durchaus eigentümlich ist geistiges Schauen dem

Menschen, daß es ihn als sein kostbarster und wesentlichster Besitz

vom Tiere am eigentlichsten unterscheidet. Wie bemerkt, ist selbst

in der Sinnesempfindung ein Unmittelbares, ein inneres Schauen

enthalten und das ist der Grund dafür, weshalb man einem Blinden

die Barbe nicht erklären kann. Als man einem Blinden Scharlachrot

erklären wollte, rief er plötzlich aus: Das ist ja wie ein Trompeten-

stoß! Das Unmittelbare des Rot konnte er zwar nicht empfinden, er

konnte aber auf ein verwandtes Unmittelbares hingeführt werden.

Es gibt also zweierlei Eingebung, die sinnliche und die geistige.

(Natürlich liegt niemals im Sinneseindruck als solchem, sondern erst

in seiner Erfassung durch das Bewußtsein, im geistigen Innewerden

die Unmittelbarkeit, der Schauungsakt beschlossen.)

Das Unmittelbare aus dem sinnlichen und geistigen Schauen her-

auszuholen, darauf beruht auch alle K u n s t . Die Empfindung der

Schönheit ist ja schon eine Entzückung, ist unmittelbar. Die Kunst

aller Dichter beruht darauf, uns die Dinge so darzustellen, daß wir

in diese Entzückung kommen. Eichendorff sagt:

„Waldesrauschen, Wetterblicken

Macht r e c h t d i e S e e l e l o s ,

Da grüßt sie mit E n t z ü c k e n ,

Was wahrhaft, ernst und groß.“

/

Und in eben diesem Lichte zeigt sich das Staunen, das Platon und

Aristoteles als den Anfang der Philosophie bezeichneten. „Das ist

der Zustand der Philosophen“, sagt Platon im „Theaitetos“, „das

Staunen; es gibt keinen anderen Anfang für die Philosophie als die-

sen.“

1

Denn das Staunen ist das Herausgehen aus dem gegebenen

1

Platon: Theaitetos, oder vom Wissen, in der Übersetzung von Friedrich

Schleiermacher neu herausgegeben von Curt Woyte, Leipzig 1922, 155 d (= Rec-