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durch aus der höchsten Einfalt des Wesens zuletzt die unendliche Mannigfaltigkeit
erzeugt wird, in sich selbst durchlaufen und unmittelbar gleichsam erfahren ...
Aber alles Erfahren, Fühlen, Schauen ist an und für sich stumm und bedarf eines
vermittelnden Organes, um zum Aussprechen zu gelangen. Fehlt dies dem Schau-
enden ... so verliert er das ihm notwendige Maß, er ist eins mit dem Gegen-
stande ... eben darum nicht / Meister seiner Gedanken... was er trifft, das
trifft e r . . . — Also um keinen Preis aufzugeben ist jenes beziehungsweise äußere
Prinzip; denn es muß alles erst zur wirklichen Reflexion gebracht werden...
Hier geht die Grenze zwischen Theosophie und Philosophie, welche der Wissen-
schaftliebende keusch zu bewahren suchen wird.“
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Wenn es kein Wissen ohne Schauen gibt, wenn es beim Schauen
aber nicht bleiben kann, sondern dieses in Wissen vermittelt wer-
den muß, so erkennen wir daraus: daß eine G e g e n s e i t i g -
k e i t des Wissens und Schauens bestehe! Diese Gegenseitigkeit,
richtig verstanden, lehrt sowohl den Gefahren dürrer Gelehrsamkeit
und Begriffssophistik wie auch der Dunkelheit und Ohnmacht des
reinen Schauens begegnen. Weder im reinen Schauen noch im leeren
Begriffe, nur in ihrer Gegenseitigkeit, unter dem Vorrange des
Schauens, kann das lebendige Wissen bestehen.
Z u s a t z ü b e r K a n t e n s S a t z : „ B e g r i f f e o h n e A n s c h a u -
u n g s i n d l e e r “
Im Lichte dieser Gegenseitigkeit zeigt sich, daß der bekannte Satz Kantens,
„Begriffe ohne Anschauungen sind leer“, einer Erweiterung bedarf. Nicht nur des
sinnlichen Anschauungs- und Erfahrungsgehaltes, von dem Kant hier spricht, bedarf
der Begriff; er bedarf auch des inneren geistigen Schauungsgehaltes, der E i n -
g e b u n g . Was „Liebe“, „Haß“, „Schönheit“, „Heldentum“ ist, muß ebenso
unmittelbar erlebt, geistig werden, wie was „rot“ ist. (In welcher Weise das un-
mittelbare Verständnis des Ganzen, also der Eingebung, der Auffassung der Ein-
zelheiten vorangehen müsse, wurde ja früher am Beispiele des „Zimmers“, des
„Stuhlbeines“ und so weiter dargelegt
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.) Das Unmittelbare am Grunde der sinn-
lichen Anschauung sowohl wie der rein geistigen Begriffe ist gleich unentbehrlich.
Richtiger sollte es daher heißen: B e g r i f f e o h n e E i n g e b u n g u n d
A n s c h a u u n g s i n d l e e r .
Die Streitfrage, ob sich zuletzt alle Eingebung wieder auf Anschauungselemente
gründe, entscheidet sich nach allem Vergangenen dahin: daß auch die auf Anschau-
ungsbestandteile sich gründende Eingebung in ihrer Weise wieder ein Eigenes,
Neues und selber wieder Unmittelbares ist, ohne das der Begriff nicht gefaßt
werden könnte, weil er keine Erlebnisgrundlage besäße. Übrigens ist es unrichtig,
daß alle Eingebung auf Sinnliches zurückgehe. In diesem Punkte ist Kantens Satz
zu b e r i c h t i g e n und enthält einen Rest von Empirismus. Für Kant war aller-
dings die Sache insoferne einfacher, als ihm auch die Zeit für eine sinnliche An-
schauungsform galt (nicht nur der Raum), daher die Zeitlichkeit des Geschehens,
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Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: Weltalter, Sämtliche Werke, Abt. 1,
Bd 10, Stuttgart 1861, S. 203 f.
2
Siehe oben S. 353.