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357

1.

Der G e g e n s a t z v o n S c h a u e n u n d W i s s e n

Das unmittelbare Erkennen, so sagt dieser Einwand, ist mit dem

Gegenstande Eins. / Zwischen dem Erkennenden und dem Dinge

wird nicht unterschieden. Das Schauen ist kein Wissen. Wie und in

welchem Sinne kann es da überhaupt zu einem begrifflichen Lehr-

gebäude der Mystik kommen?

Die Beantwortung dieser Frage ist in unserer früheren Bestim-

mung des Verhältnisses des Unmittelbaren zum Mittelbaren schon

enthalten. Schauen ist das Unmittelbare, Denken ist die Vermittel-

barung. Deutlich hat Schelling dieses Verhältnis in den „Weltaltern“

bestimmt. Er erkennt das Schauen als den Grund aller Wissenschaft

an, zeigt aber auch, wie der entfaltende und verarbeitende Begriff

sein Recht verlangt.

Schelling sagt, daß das Unmittelbare, in das der Mensch sich versenkt, in die

Tiefen des Weltwesens selbst hineinführe. „Dem Menschen muß ein Prinzip zuge-

standen werden, das außer und über der Welt ist; denn wie könnte er allein von

allen Geschöpfen den langen Weg der Entwicklungen von der Gegenwart bis in

die tiefste Nacht der Vergangenheit zurück verfolgen, er allein bis zum Anfange

der Zeiten aufsteigen, wenn in ihm nicht ein Prinzip von dem Anfange der Zeiten

wäre? Aus der Quelle der Dinge geschöpft und ihr gleich, hat die menschliche

Seele eine Mitwissenschaft der Schöpfung. Aber nicht frei ist im Menschen das

überweltliche Prinzip, noch in seiner uranfänglichen Lauterkeit, sondern an ein

anderes, geringeres Prinzip gebunden.. ."

1

„Wer kann die Möglichkeit einer

solchen Versetzung des Menschen in sein überweltliches Prinzip und demnach eine

Erhöhung der Gemütskräfte ins Schauen schlechthin leugnen? Ein jedes physisches

und moralisches Ganzes bedarf zu seiner Erhaltung von Zeit zu Zeit der Reduk-

tion auf seinen innersten Anfang. Der Mensch verjüngt sich immer wieder und

wird neu selig durch das Einheitsgefühl seines Wesens ... nicht der Dichter allein,

auch der Philosoph hat seine Entzückungen. Er bedarf ihrer, um durch das Gefühl

der unbeschreiblichen Realität jener höheren Vorstellungen gegen die erzwungenen

Begriffe einer leeren und begeisterungslosen Dialektik verwahrt zu werden.“

2

„Ein anderes aber ist, die Beständigkeit dieses anschauenden Zustandes verlangen,

welches gegen die Natur und Bestimmung des jetzigen Lebens streitet. .. Wir

leben nicht im Schauen; unser Wissen ist Stückwerk, das heißt, es muß stüde-

weise nach Abteilungen und Abstufungen erzeugt werden, was nicht ohne alle

Reflexion geschehen kann. — Darum wird der Zweck im bloßen Schauen nicht

erreicht... In der äußeren Welt sieht ein jeder... das nämliche... diesen Ver-

lauf (äußerer Vorgänge) sieht der Bauer so gut wie der Gelehrte und kennt ihn

doch nicht eigentlich, weil er die Momente nicht auseinanderhalten, nicht geson-

dert ... betrachten kann. Ebenso kann der Mensch jene Folge von Prozessen, wo-

1

Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: Weltalter, Sämtliche Werke, Abt. 1,

Bd 10, Stuttgart 1861, S. 200.

2

Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: Weltalter, Sämtliche Werke, Abt. 1,

Bd 10, Stuttgart 1861, S. 203.