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die in allen Begriffen, auch Liebe, Haß und so weiter enthalten ist, für Kant zur
sinnlichen Anschauungsform (a priori) wird.
Der Grundmangel der Kantischen Erkenntnistheorie, daß sie die Eingebung
nicht kennt, tritt hier zutage. Begriffe wie „Schönheit“, „Tragik“ stammen nicht
aus der sinnlichen Anschauung, sondern aus dem Grunde derselben, aus einer
Eingebung geistiger Art. Das ist denn auch der Grund dafür, daß G e i s t e s -
u n d S e e l e n b l i n d e n B e g r i f f e s o l c h e r A r t n i c h t s s a g e n .
Wie man dem Blinden nicht von „Rot“ sprechen kann, so dem Feigen nicht von
Heldentum, / dem Rohen und Verhärteten nicht von Schönheit, weil ihm der
innere Sinn, die Eingebungsgrundlage dafür fehlt.
2.
Der G e g e n s a t z v o n S c h a u e n u n d H a n d e l n
Einleuchtend klingt der Einwand, die Vertiefung in das Schauen
sei ja gerade die Abkehr vom Handeln und verneine darum die
handelnde, sittliche Welt, damit auch die menschliche Gesellschaft,
oder lasse sie doch hinter sich. Darnach wäre vom Standpunkte der
Mystik aus jede Gesellschafts- und Sittenlehre unmöglich.
Der Gegensatz von Schauen und Handeln besteht aber nur, so
lange man das Wesen des Handelns darin sieht, daß es aus bewuß-
ten „Motiven“ und aus vernünftiger Überlegung geschehe, das heißt
entweder rein rational oder „lustbedingt“. Das ist unrichtig. Alles
Handeln hängt in Wahrheit von einer Schauung, ebenso wie jede
Schlußfolgerung und Begriffszerlegung von einer Eingebung ab.
Sieht man sich die Tatsache des Schauens genau an, so findet man,
daß sie zwei Seiten hat: das Insichgekehrte, Versunkene und das zur
Ausgebärung Hindrängende. Indem es beim Schauen nicht bleibt,
tritt eine W e n d u n g von der Unmittelbarkeit und Insichge-
kehrtheit, eine Wendung zur Mittelbarkeit, zur Fruchtbarmachung
ein. Handeln ist ein Folgezustand des Schauens, Vermittelbarung
ein Folgezustand der Unmittelbarkeit.
Handeln als Folgezustand des Schauens ist dadurch möglich: daß
auch das Schauen kein Nichtstun, sondern höchste innere Ange-
spanntheit ist, jedoch in der Form des sich Hingebens und Emp-
fangens. Die erleidende Form des Tuns geht über in die wirkende
Form des Tuns. Das Insichselbst-Leben und -Weben der Schauung
geht über in das Ausgebären des Werkes.
Es ist dies das überfließende, ausbrechende Werk. Dafür wird das
so oft mißverstandene Bild der Mystik gebraucht: die Emanation.
Emanation ist nicht ein stoffliches Überfließen, aber ein Übergehen
der Unmittelbarkeit in die Mittelbarkeit, der Schauung in die