Table of Contents Table of Contents
Previous Page  6040 / 9133 Next Page
Information
Show Menu
Previous Page 6040 / 9133 Next Page
Page Background

356

[317]

sen sind. Wie das begriffliche Denken ohne ein Mystisches am

Grunde nicht möglich ist, so auch die Welt. Ohne den mystischen

Grund müßte die Welt in richtungslose Vielheit auseinanderfallen.

Ohne Ganzheit kein Glied. Die Ganzheit aber ist schon das My-

stische. Dagegen ist nichts haltloser als die Atomistik, welche die

Welt ohne den inneren Grund der Ganzheit denken, alles in das

Getrennte, Diskrete, Mittelbare auflösen will. Das atomistische Den-

ken ist das schlechthin unmystische — aber gerade dieses Denken

macht den Gegenstand, den es im Begriffe fassen will, undenkbar.

Denn es verliert das Unmittelbare des Gegenstandes, auf dem sich

sein Mittelbares erst aufbauen soll.

Gegen unsere Auffassung, in allem Schauen, in aller Unmittelbarkeit das Mysti-

sche zu finden, wird man vielleicht die berühmte Begriffserklärung, die Görres

seiner „Christlichen Mystik“ voranstellte, anführen: „Die Mystik ist ein Schauen

und Erkennen unter Vermittlung eines höheren Lichtes, und ein Wirken und Tun

unter Vermittlung einer höheren Freiheit.“

1

An dieser Begriffsbestimmung wäre

auszusetzen, daß von einer „Vermittlung“ des höheren Lichtes gesprochen wird,

wo doch gerade die Unmittelbarkeit das Mystische kennzeichnet. Indessen ist das

nur ein Mangel des Ausdruckes, insoferne man eben so gut setzen könnte „ein

Schauen im höheren Licht“, „ein Tun aus höherer Freiheit“. Aber auch das

„höher“ bedarf in dem Sinne der Erläuterung, daß eine geschlossene Stufenfolge

von den gewöhnlichsten bis zu den höchsten Zuständen führt und diese alle ein

Unmittelbares, ein Schauen, am Grunde haben.

B. Die E i n w ä n d e g e g e n d i e M y s t i k

Man kann drei grundsätzliche Einwände, die alle Mystik über-

haupt treffen wollen, unterscheiden: erstens den Einwand vom

Standpunkte der Wissenschaft, wonach ein Gegensatz von Schauen

und Wissen bestehe, daher das Schauen keine Wissenschaft be-

gründe; zweitens den Einwand vom Standpunkte der Sitten- und

Gesellschaftslehre, wonach ein Gegensatz von Schauen und Handeln

bestehe, daher das schauende Leben, das die Mystik verlange, dem

sittlichen Leben, das auf das Handeln gehe, widerspreche; endlich

drittens den Einwand vom Standpunkte der Metaphysik, wonach

die Mystik den Gegensatz von Schöpfer und Geschöpf verwische

und dadurch zum Pantheismus führe.

1

Johann Joseph von Görres: Die christliche Mystik, Bd 1, Regensburg 1879,

S. 1.