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unstreitig einer der ersten Nationalökonomen aller Zeiten ge-
worden.“
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Adam Müller wurde trotzdem der größte Volkswirt seiner Zeit.
Man hat diesem Satze widersprochen, aber nicht erkannt, daß
Adam Müller nicht mit gewöhnlichem Maße zu messen sei. Bei ihm
handelt es sich nicht darum, ob er seine Einsichten begrifflich zu
entwickeln vermochte (das gelang ihm nur sehr mangelhaft), son-
dern um eine neue Schau der Dinge. Erwägt man die befangene,
einfache Anschauungsweise Quesnays, die stilisierte hausväterliche
Klugheit Smiths, die scharfe und sachliche, aber über den Stand-
punkt des Einzelinteresses nicht hinausgehende Zergliederung Ri-
cardos — dann erscheint Adam Müllers Intuition in einem gött-
lichen Lichte. Auf diese Intuition kommt es bei ihm allein an, dar-
auf, daß er die Dinge in anderem Zusammenhang sah, daß er
e i n e n n e u e n S y s t e m g e d a n k e n j e n e m S m i t h s e n t -
g e g e n s e t z t e . Dies allein ist entscheidend, nicht aber der Um-
stand, daß seine Lehre als Begriffsgebäude wenig ausgebildet, daß
seine Einzeluntersuchung von Anfang an verschwommen und den
großen Grundgedanken oft kaum angemessen war. Trotz dieses
Mangels lag daher in Adam Müllers Volkswirtschaftslehre ein von
der späteren deutschen Wissenschaft ungehobener, ja verschollener
Schatz. Es ist leichter, Adam Müller mangelnde Begriffsschärfe vor-
zuwerfen, als ihn zu würdigen. Man muß ferner neben der Tiefe
der Eingebung die moralische Kraft ermessen, die nötig war, um
gegen Smiths weltbeherrschenden Individualismus aufzutreten,
wenn man ihm gerecht werden will. Bis heute wird Adam Müller
unterschätzt, der als Stilist unerreicht ist, als Kunstkritiker neben
den Brüdern Schlegel steht, der vielleicht als Charakter nicht voll-
kommen fest, doch als Mensch eine edelste Kulturblüte seiner Zeit,
als Staats- und Wirtschaftsforscher von unvergleichlicher Anschau-
ungskraft und fähig war, die innersten Schwingungen der gesell-
schaftlichen Seele zu erlauschen.
Es ist kaum zum allgemeinen Bewußtsein gekommen, daß fast
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Wilhelm Roscher: Die romantische Schule der Nationalökonomie in
Deutschland, Tübinger Zeitschrift 1870, S. 91. (Roscher versteht Adam
Müller in entscheidenden Punkten nicht, am meisten würdigte ihn Hilde-
brand.)