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daraus, daß die äußeren Bedingungen, die „Topographie”, wie Köhler sagt,
hier die Oberfläche des Leiters, durchaus beherrschend sind, während z. B. die
Raumgestalt einer Blume oder die geistige Gestalt einer / Melodie oder eines
Siegfried nicht von äußeren Bedingungen abhängen. — Ein ebensolcher Fehler
ist es, wenn andere das Atommodell Niels Bohrs als „Ganzheitsgebilde” be-
zeichnen. In beiden Fällen g e b r i c h t e s a n d e m w a h r e n B e g r i f f e
v o n G a n z h e i t u n d G e s t a l t . Diesen Mangel teilt Köhler übrigens mit
M e i n o n g , E h r e n f e l s u n d D r i e s c h , die in Wahrheit nicht wissen,
was Ganzheit sei. Driesch redet primitiverweise von „Ganzheitskausalität” und
von einem Ganzheits-„Faktor”, dem „Faktor Entelechie]”. Hier sind z u e r s t
kausalmechanische Vorgänge angenommen; und d a n n soll eine „Entelechie”
hinzukommen; aber auch diese soll als „Faktor” (was doch nur kausalmechanisch
denkbar wäre) wirken — ein Rattenkönig von Widersprüchen! Wahre Ganzheit
kann niemals b l o ß als das „Nichtsummative”, als das, was „mehr sei als die
Summe der Teile”, begriffen werden. Denn das ist nur eine verneinende Be-
stimmung. G a n z h e i t w i r d e r s t d o r t b e g r i f f e n , w o G l i e d e -
r u n g s k a t e g o r i e n g e d a c h t w e r d e n , wo also Ausgliederung und
Rückverbundenheit und ferner innerhalb der Ausgliederung wieder Teilinhalte
und Stufen, Vorrang, Leistung und anderes mehr angenommen wird.
Geschieht das nicht, dann läuft zuletzt alles darauf hinaus, das „über die
Summe der Teile hinausgehende” Mehr an Sein — doch wieder kausalmecha-
nisch, wieder mengenhaft zu fassen, nämlich dadurch, daß es nun nur m i t t e l -
b a r s t a t t u n m i t t e l b a r von den Teilen hergeleitet wird (z. B. durch
„besondere Wechselbeziehungen” dieser Teile, wie angeblich bei der Melodie
nach Köhler). Darum geht Köhler, wie wir es zuletzt grundsätzlich kennzeich-
neten, doch wieder von u n t e n h i n a u f , von den Teilen hinauf. Jede
echte Ganzheit ist aber nur von o b e n h i n u n t e r zu erklären, sie ist stets
nur durch eine Ausgliederungseinheit, die vor den Teilen steht, bestimmt.
O h n e m i t d e m S a t z e „ D a s G a n z e i s t v o r d e m T e i l e ” E r n s t
z u m a c h e n , g i b t e s k e i n g a n z h e i t l i c h e s V e r f a h r e n
1
. In
dessen, weder im „Faktor E” (Driesch) noch im „äquipotenziellen System”
(Driesch), noch in der „Transponierbarkeit der Verteilung einer Ladung” (Köh-
ler) finden sich Gliederungsbegriffe, ist der Vorrang des Ganzen vor den Gliedern
ausgesprochen. Nur wo der Satz „Das Ganze ist vor dem Teile” gilt, und darum
auch der Satz „Das Ganze stellt sich in den Gliedern dar”, ist Ganzheit, nur dort
auch G e s t a l t .
Es ist also folgerichtig, wenn die mathematische Physik die Gestalt überhaupt
nicht behandelt, weder die Raumgestalt noch die Wesensgestalt. Größen können
zuletzt nicht anders denn von unten hinauf erklärt werden, / also nur summativ,
sei es auch durch „besonders geartete Beziehungen” einer geschlossenen Anzahl
(die dann fälschlich eine „geschlossene Einheit” genannt wird). Mathematische
Ganzheiten gibt es nicht, daher auch keine mathematisch kennzeichenbare Ge-
stalt. Die Formeln für Kreis, Kugel usw. gestatten uns zwar, deren Größen zu
berechnen. Die Gestalt selbst aber stellen sie nicht dar. Vielmehr setzen sie
voraus, daß man wisse, was ein Kreis usw. sei, und daher imstande sei, die be-
treffenden Zahlenausdrücke den Gestalten zuzuordnen, das heißt, sich die Ge-
stalten dabei zu denken.
1
Vgl. meine Kategorienlehre (= Ergänzungsbände zur Sammlung Herd-
flamme, Bd 1), 2. Aufl., Jena 1939, S. 66ff. und 340ff., auf die ich zur näheren
Begründung verweisen muß.