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Idealismus folgte ihm hierin. Bei Kant sollte allerdings nur die
Materie aus diesem inneren Gegensatze erklärt werden. Der
junge S c h e l l i n g aber übertrug ihn auf alle Naturerschei-
nungen, auch auf den Raum, so daß der Raum als ein dialek-
tisches Ineinander von ausdehnenden und zusammenziehenden
Kräften aufgefaßt wurde
1
.
Unsere bisherige Zergliederung der ersten Grundeigenschaft
des Raumes, der S t e t i g k e i t , bestätigt diese Annahme nicht,
sie widerlegt sie aber auch nicht völlig. Im Stetigen ist keine
Dia- / lektik einer ausbreitsamen und einer zusammenziehenden
Kraft zu sehen, sondern lediglich Ausbreitung. Aber dennoch
zeigte sich, daß es mit der Ausbreitung als einem bloßen Neben-
einander nicht getan sei: In der Stetigkeit liegt, daß außer dem
Nebeneinander auch ein Miteinander, ein Zusammenbestehen
der Raumteile zu unterscheiden ist. Ferner zeigte sich die Gestalt
als Wesenseigenschaft des Raumes, in der außer dem Neben-
einander Einheit zu finden ist.
Das Miteinander in der Stetigkeit und das Gesamtheitliche in
der Gestalt verleiht dem Raume ein ganzheitähnliches, nicht ein
dialektisches Gefüge: Miteinander und Einheit können wohl
als Gegensätze zum bloßen Außereinander, Nebeneinander auf-
gefaßt werden, aber nicht als dialektische, das heißt nicht als
kontradiktorische Gegensätze. Nicht Dialektik, sondern Gefüge
ganzheitlicher Art bezeichnet das Wesen des Raumes.
Um diese Gedanken weiter zu verfolgen, ist noch die Frage
zu klären, wieweit das Gleichartige, Homogene, welches dem
Raume eignet, hiermit in Einklang zu bringen sei, in welchem
Verhältnisse es zu der ganzheitähnlichen Art stehe? Dies wird
erst in späterem Zusammenhange möglich sein.
1
Vgl. Schelling: Von Attraktion und Repulsion überhaupt, als Principien
eines Natursystems (Sämmtliche Werke, Abt. 1, Bd 2, Stuttgart 1857, S. 178ff.