D r i t t e r A b s c h n i t t
Zahl und Maß. Der Raum als Grundlage
der messenden Zahl
I.
Das Wesen der Zahl
Das Wesen der Zahl ist noch immer ein Streitpunkt der
Wissenschaft. Scheinbar kann die Zahl sowohl mehrere Dinge
nebeneinander wie nacheinander bezeichnen. Darum sagt die
eine Ansicht, die Zahl sei einfach eine Abstraktion von allen be-
sonderen Eigenschaften der Dinge, z. B. bezeichne „6“ ebenso
6 Äpfel wie 6 Häuser
1
. Die Frage ist aber, wie man zu der
Tatsache der Gültigkeit des Begriffes von „6“ Dingen ge-
kommen? K a n t hat unseres Erachtens die wahre Wurzel des
Zahlbegriffes bloßgelegt, indem er zeigte, daß die Zahl der
Z e i t angehöre
2
. Die Zahl entspringt ihm aus der Einheit im zeit-
lichen Wechsel der Setzungen, also aus dem Festhalten der
Denksetzungen im Nacheinander. Die Zahl gehört damit der
Zeitform des Geistes an. Der Ursprung und das Wesen der Zahl
liegt ihm also nicht in der Gleichzeitigkeit (wie man etwa aus
dem Schulbeispiele von / 10 nebeneinander liegenden Kugeln zu
schließen geneigt wäre), nicht in dem Nebeneinander, das auch
räumlich gedacht werden kann, sondern in der Aufeinanderfolge
von Denksetzungen.
1Vgl. z. B. Richard Dedekind: Was sind und was sollen die Zahlen? 6. Aufl.,
Braunschweig 1930, S. 17, §§ 1 ff.
2
Kant: Kritik der reinen Vernunft, 1. Aufl. 1781: „Vergesse ich im
Zählen, daß die Einheiten, die mir jetzt vor Sinnen schweben, nach und
nach zueinander von mir hinzugetan worden sind, so würde ich [nicht] die Er-
zeugung der Menge durch diese successive Hinzutuung von Einem zu Einem, mit-
hin auch nicht die Zahl erkennen...” (Werke, herausgegeben von Ernst Cassirer,
Bd 3, Berlin 1913, S. 614). — Ähnlich schon Leibniz: Hauptschriften zur Grund-
legung der Philosophie, Bd 1, Leipzig 1904, S. 54.