100
[109/110]
her gab es unseres Wissens keinen Gedankengang, der das Vor-
gehen der Relativitätsphysik anders denn mathematisch begreif-
lich machte. Der Vorrangsatz „Zeit ist vor Raum“ tut dies in
dem dargelegten Sinne.
Dagegen folgt aus dem Vorrange der Zeit vor dem Raume, daß die Be-
handlung der Zeit durch die R e l a t i v i t ä t s p h y s i k dem Wesen der Sache
nicht entspricht. Denn wenn sich auch die Zeit auf dem Gebiete der Natur nicht
anders äußern kann als in räumlichen Geschehnissen (die wieder untereinander
verglichen werden müssen, da es ja vereinzelte, getrennte räumliche Geschehnisse
nicht geben kann, und zwar infolge des Gesamtzusammenhanges aller Ver-
räumlichungen) — so ist darum dem Wesen der Sache nach die Zeit doch nicht
auf gleichem Fuße zu behandeln wie die 3 Abmessungen des Raumes, so daß
die Zeit als 4. Abmessung erschiene.
Ernst M a c h findet bei Vergleichung der Denkweise von Galilei und Newton
einerseits, von Huyghens und Josef Robert Mayer andrerseits, daß der Fall-
z e i t der physikalische Begriff der K r a f t (Massenbeschleunigung), dem Fall-
r a u m e der physikalische Begriff der A r b e i t entspreche; und daß beide
Begriffe, Kraft wie Arbeit, für die physikalische Untersuchung gleich ursprüng-
lich seien. „Daß (bei einem Körper) die Geschwindigkeit durch die Fall z e i t
oder daß sie durch den Fall r a u m bestimmt sei, ist eine gleich natürliche
und einfache Annahme.” — „Man / kann also nach Belieben die F a 11 z e i t oder
den F a l l r a u m a l s g e s c h w i n d i g k e i t b e s t i m m e n d ansehen.”
1
Soferne
die Zeit durch den Begriff der Geschwindigkeit sozusagen in den Raum ein-
gegangen ist, kann der physikalische Befund mit einer Behandlung von Zeit und
Raum als gleichursprünglichen Faktoren vielleicht auskommen (jedenfalls ist
anzuerkennen, daß die Physik dazu Anhaltspunkte an den Tatsachen habe); daß
sie aber dem W e s e n d e r S a c h e nach gleichursprünglich seien, das folgt
aus dem physikalischen Befunde ebensowenig wie aus dem Formalismus der
mathematischen Behandlung. Denn sollen Zeit und Raum überhaupt in einem
sachlichen Verhältnisse zueinander stehen, dann kann die Zeit nur den Vor-
rang vor dem Raume haben.
Entspricht die Zeit im angegebenen Sinne dem Kraftbegriffe, so ließe sich
der Vorrang der Zeit vor dem Raume physikalisch dahin ausdrücken, daß die
Erhaltung der Kraft nur möglich wäre bei einer Erhaltung des Raumes als des
Verräumlichungsergebnisses der Zeit, anders gesagt, bei einer Erhaltung der
dinglichen Eigenschaften des Raumes, des verräumlichten Dinges. Hiermit wäre
für die Zurückführung der Masse auf Energie, wie sie die Relativitätsphysik
fordert, ebenfalls ein Weg des Verständnisses eröffnet. Denn Masse entspricht
dem Raume; Energie, Kraft steht der Zeit näher.
B. N a t u r p h i l o s o p h i s c h e D e u t u n g d e s V o r -
r a n g e s d e r Z e i t : V o r - A n w e s e n h e i t d e r Z u -
k u n f t i n j e d e r N a t u r e r s c h e i n u n g
Kehren wir zur philosophischen Bedeutung des Satzes „Zeit
ist vor Raum“ zurück, so tritt uns vor allem das entgegen, was
* S.
1
Ernst Mach: Die Mechanik in ihrer Entwicklung, 4. Aufl., Leipzig 1901,
S. 266 und 264; vgl. S. 260ff.