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Waage. Betrachten wir z. B. einen frei daliegenden ungelöschten
Kalkstein, so scheint er wie in sich beruhend, beharrend, tot;
werden ihm aber andere Körper näher gebracht, z. B. Wasser,
dann treten plötzlich starke chemische Wirkungen auf (das Was-
ser zischt unter großer Hitzeentwicklung auf usw.). Woher?
V o r h e r nämlich wurden durch Aufnahme ganz bestimmter
Gegenwirkungen anderer Stoffe die eigenen Wirksamkeiten —
deren letzte Grundlage die eigenen Verräumlichungstaten waren
— in einen gewissen Beharrungszustand versetzt; j e t z t aber,
wo sich durch Wasserzusatz die Gegenwirkungen ändern, werden
die eigenen Wirksamkeiten frei, werden sie „erregt“ und treten
als W a h l v e r w a n d t s c h a f t oder C h e m i s m u s her-
vor.
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Wenn wir sagen, die chemischen Wahlverwandtschaften tre-
ten in Erscheinung, kommen zur Geltung, so sagen wir damit:
daß Wirksamkeiten aus dem Vorräumlichen heraus stattfinden,
immaterielle Aktionen, die aus der Ausgliederungsmitte der
Dinge hervorbrechen, allerdings, wie erklärt, nicht auf sich
selbst gestellt, sondern durch gleichzeitige Aufnahme von Gegen-
wirkungen anderer Stoffe. Es tritt daher, wie wir ja schon früher
erkannten, im Chemismus ein n e u e s W e r d e n auf. Denn der
betreffende Körper wird durch die Gegenwirkungen von anderer
Art auf seine immaterielle Wurzel zurückgebracht, und das ist
es, was in der „chemischen Reaktion“ hervortritt. Das Ergebnis
ist die neue „chemische Verbindung“, das heißt aber in Wahr-
heit: keine Zusammensetzung, sondern ein neuer Körper mit
neuen Wirksamkeiten und neuen Gegenseitigkeiten, neuer Auf-
nahme von Gegenwirkungen.
Das neue Werden zeigt uns die Natura naturans, die natu-
rierende Natur am Werke; das Gewordene die Natura naturata,
die genaturte Natur, wie Meister Eckehart sie nannte. Das neue
Werden, das im chemischen Vorgange sich vollzieht, ist zugleich:
Individuation, Bildung des Dinglichen, des Einmaligen.
Im chemischen Vorgange öffnet sich die Innerlichkeit der
Körper. Es zeigt sich ihre Gliedhaftigkeit im Gesamtganzen der
Körperwelt.
Im Chemismus haben wir, alles zusammengefaßt, vor uns:
1.
die aus dem Inneren oder Vorräumlichen hervorbrechende
Verräumlichungstat; welche stattfindet