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Erscheinung, daß innerhalb aller einzelnen Religionen v e r s c h i e -
d e n e R i c h t u n g e n a b w e c h s e l n d vorherrschen können.
Die mystischen Richtungen bringen vornehmlich die innere Teil-
nahme der Seele an Gott zur Geltung, ihnen ist die Religion zuerst
L e b e n u n d L i e b e ; die intellektuellen, sozusagen scholasti-
schen Richtungen vornehmlich die Erkenntnis, ihnen ist Religion
zuerst L e h r e , sei es als festes Dogma, sei es als freie Spekulation,
sei es als Mythos; die praktischen Richtungen bringen mehr S i t t -
l i c h k e i t (Zarathustra) oder G e s e t z u n d W e r k (Judentum)
zur Geltung. Daß sich endlich an all dieses auch das Institutionelle, das
ist das Kirchliche und andererseits ebenso das Magische, in jeweils
verschiedener Weise anschließt als Kirche, Sakrament, Mysterium,
daß also mehr i n s t i t u t i o n e l l - k i r c h l i c h e , mehr ma-
g i s c h - s a k r a m e n t a l e , das ist kultisch-liturgische Richtun-
gen in jeder Religion bestehen und geschichtlich einander ablösen
können, läßt sich daraus ebenfalls leicht einsehen. Doch handelt es
sich hier bereits um abgeleitete Erscheinungen, die erst später zu be-
trachten sind.
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IL Die Quellen der Religion
A.
A b w e i s u n g d e r p o s i t i v i s t i s c h e n u n d d e r
s p i r i t u a 1 i s t i s c h e n T h e o r i e n
Die Lehren vom Wesen und vom Ursprung der Religion hängen
eng zusammen. Ist die Religion selbst ein übersinnliches Phänomen,
als Rückverbundenheitsbewußtsein, dann kann sie keinen bloß sinn-
lichen Ursprung haben; ist sie eine sinnliche Erscheinung, dann hat
sie ausschließlich in der Sinnlichkeit ihren Ursprung. Das erstere be-
haupten die oben berührten, das letztere die naturalistisch-positi-
vistischen Lehren, welche wir jetzt zu betrachten haben. Jedoch soll
hier noch nicht von der geschichtlichen Entstehung der Religion ge-
sprochen werden
1
, sondern von ihrem inneren Ursprung im Wesen
und Geist des Menschen.
Man kann, wie schon angedeutet, alle empiristisch-positivistischen
Theorien der Religion darauf zurückführen, daß sie diese zuletzt
aus der Sinnlichkeit herleiten. Denn sämtliche Ursachen, welche nach
1
Darüber erst unten S. 343 ff. unter „Urreligion“.