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Aberglauben, sie hätten keine realen Hintergründe an transzenden-
ten Mächten — der irrte, der kennt die Abgründe der Welt und
des Menschen nicht.
So hat das gesamte Heidentum ein wahres Janusgesicht: das eine
zeigt ins Transzendente, die Beseelung, Vergöttlichung der Gemein-
schaft, der Natur — „alles ist von Göttern erfüllt“, das andere zeigt
ins Dämonische, Düstere, Unheimliche, Abgründige und verlangt
Blut, Meidung (Tabuierung), Sühne.
Hier sei ausnahmsweise ein Vergleich mit dem C h r i s t e n t u m
hinzugefügt, da er die Sache erst vollends aufhellt. Nur wer die
Grundwahrheiten des Polytheismus versteht und sogar anerkennt,
kann die Bedeutung des Christentums recht ermessen, kann die
Größe der Krise ermessen, welche notwendig war, um die Mensch-
heit auf seinen Standpunkt zu erheben, kann die unaussprechliche
innere Befreiung nachempfinden, die in den Worten ihr Symbol
fand: „Gott ist Geist und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist
und in der Wahrheit anbeten“
1
, Gott ist der V a t e r , der den
Menschen „das rechte Brot vom Himmel“ gibt
2
, Gott ist die
L i e b e , er erzeigt sie den Menschen
3
, er ist v o l l k o m m e n ,
und wie er sollen es auch die Menschen sein
4
. Sind diese Bestimmun-
gen auch anderen Religionen nicht unbekannt, so nahmen doch erst
im Christentum geschichtlich mit der Geistigkeit Gottes das Blut
der Opfer und der darin liegende Götterzwang, die Beschwörung,
ein Ende, mit der Väterlichkeit und Liebe Gottes der Krieg der Göt-
ter untereinander, den auch die ihnen gehörigen Menschen führten
(der transzendente Ursprung der Kriege!); mit der Vollkommenheit
Gottes erhielt die / mystische Vergottung eine sittliche Richtung,
die vorher unbekannt oder unwirksam war.
Wer von diesen Sätzen auch nur ein winziges Jota abstreicht, wird
der Geschichte nicht gerecht, noch den geheimen Tiefen der Religio-
nen.
Die W a h r h e i t d e r R e l i g i o n e n h a t e s a n s i c h ,
d a ß s i e d u r c h a n d e r e R e l i g i o n e n n i c h t s o s e h r
w i d e r l e g t , a l s v i e l m e h r ü b e r h ö h t w e r d e n . S o
1
Johannes 4, 24.
2
Johannes 6, 32.
3
Johannes 3, 1.
4
Mattheus 5, 48.