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Trennt man auf diese Weise das erste Entstehen, welches nicht
beobachtbar ist, w e i l e s e i n e m H e r a u s t r e t e n a u s
e i n e r h ö h e r e n E b e n e o h n e V e r m i t t l u n g e i n e s
s c h o n G e g e b e n e n (eines Keimes) gleicht — trennt man das
erste Entstehen von der Umbildung, Umgliederung oder Entfal-
tung, dann begreift man, daß in der Umgliederung, ä u ß e r l i c h
gesehen, die Abfolge der Erscheinungen allerdings ein Bild zeigen
könne, welches eine Entwicklung vom Niederen zum Höheren vor-
zutäuschen vermag. So das Samenkorn, welches zur Rose wird. Faßt
man nämlich das Samenkorn fälschlich nur als einen Inbegriff che-
mischer Verbindungen auf, dann allerdings „entwickelt“ sich aus
dem bloßen Chemismus Leben, z. B. die Rose, das Höhere aus dem
Niederen. Über diesen Irrtum des Materialismus ist man aber
heute doch wohl hinaus. In Wahrheit liegt im Samenkorn die Rose
(das Höhere) bereits latent beschlossen. Wo ein Höheres scheinbar
aus dem Niederen sich entwickelt, ist es in Wahrheit schon keimhaft
gegeben. So im Rosensamen die Lebensmacht der Rose, im Säug-
ling Goethe die Geistesmacht des Dichters Goethe, im Wunderkind
Mozart der tongewaltige Magier des Requiems.
Es ist also, wir wiederholen es, wahr, daß ä u ß e r l i c h gese-
hen, das Leben der Rose aus dem Samenkorn, die Macht des Gei-
stes aus dem embryonalen Leib stufenweise hervortrete; es ist aber
unwahr, daß dieses Hervortreten eine Entwicklung von Neuem
wäre, daß dabei Niederes zu Höherem würde. Überall, wo sich
scheinbar eine Entwicklung vom Niederen zum Höheren zeigt, ist
es ein Durchbrechen des im Niederen schon vorher angelegten
Höheren, eine Entfaltung des schon Gegründeten.
„Entfaltung“ gegen „Entwicklung“!
Es gibt keine Entwicklung nach aufwärts, keine „Höherbildung“.
Wie sollte auch eine solche gedacht werden? Der Mechanismus der
„Auslese durch den Kampf ums Dasein“, auf den der Darwinis-
mus alles setzte, ist längst als bloße Nebenerscheinung des organi-
schen Lebens erkannt und die „Erhaltung von Gleichgewichtszu-
ständen“ in der Physik oder ähnliche Phantasien sind gänzlich un-
zureichend für das, was sie leisten sollen.
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Von keiner Seite her ist also die Entwicklung des Höheren aus
dem Niederen ein Begriff, den man zu Ende denken könnte.