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Eine so ungeheure Leistung des Denkens ist nur dort möglich,

wo der menschliche Geist aus dem Ü b e r g a n g vom Mystisch-

Intuitiven zum Weltlich-Diskursiven begriffen ist, wo er an der

Grenzscheide zweier Welten die Kräfte beider in sich trägt.

Hiermit bestätigt sich in der Kultur, was sich schon in der Reli-

gion zeigte. Diese urgewaltige Geistestat konnte nur gelingen, wo

sich der Übergang aus dem mystischen zum reflektierenden Be-

wußtsein vollzog, so daß der Mensch noch in beiden Sphären lebte,

noch aus beiden Sphären seine geistige Nahrung sog.

Der Naturalismus hingegen, welcher Sprache und Religion sinn-

lich, von unten hinauf, erklären will, verkennt die ungeheure, in

gewissem Sinn übermenschliche Leistung, welche uns in Sprache

und Religion entgegentritt. Es ist leicht, beide hinterdrein zu kriti-

sieren, aber es ist, so scheint es, für den im Naturalismus Befange-

nen weniger leicht, die überwältigende Größe der geistigen Lei-

stung, die ihnen zugrunde liegt, sich zu vergegenwärtigen. Wer je-

doch dieser Größe innewird, kann nie und nimmer auf den Einfall

kommen, Religion und Sprache aus tierischen Anfängen und sinn-

lichen Einflüssen herzuleiten.

Unmittelbar oder mittelbar beruht somit die gesamte Urkultur

auf mystischen Zuständen und auf derselben Uroffenbarung, welche

die Urreligion begründete.

Auch die M e d i z i n der Alten, um noch eine Einzelheit anzumerken, ist

nicht primär auf sinnliche Erfahrung, sondern ganz wesentlich auf Ekstase, Na-

tursichtigkeit zurückzuführen. An dem Beispiel der „Seherin von Prevorst“,

welche in ihren Trancezuständen die lindernden Kräuter selbst angab, die man

für sie anwenden sollte, ergab sich uns schon früher diese Einsicht. Das sind aber

mehr visionär-magische, nicht rein mystische Zustände

1

.

IV. Von der Uroffenbarung zum Polytheismus

Um die der ersten Urzeit folgenden Zeiten zu verstehen, bedarf

es für unsere Zwecke nicht der Annahme eines f o r m e l l e n Ab-

falles, eines formellen Ereignisses dieser Art. Was wir unter allen

Umständen annehmen müssen, ist aber ein Herabsinken aus hohem

ekstatischen Zustand mystischer Erfahrung, eine, wenn wir so sagen

dürfen, E n t - E k s t a t i s i e r u n g .

/

1

Siehe oben S. 175 ff.