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Gott — wie z. B. jeder moderne Mensch beweist, dem eine hohe,
geistige Gottesvorstellung selbstverständlich ist! Christus befreite
dadurch die Menschheit von der Fessel des jüdischen Gesetzes ebenso
wie von der Sinnfälligkeit und dem Chaos der heidnischen Mytho-
logie. Es ist klar, das antike Gottesbewußtsein in seiner Konkretheit
wurde von Grund auf verändert! Die Nichtigkeit finsterer und
leerer Tabuobservanzen der Juden (worauf sie später selbst ihr
Ghetto gründeten) und der Heiden wurde offenbar, der Untergang
der vielen sinnlichen Götter, der Aufgang des e i n e n geistigen
Gottes war die ungeheure Folge.
Man kann sich dieses Geschehen nicht gewaltig genug vorstellen.
Alle Wurzeln des Lebens wurden davon berührt.
Der Entfaltung des Gottesbewußtseins zu Geist und Liebe ent-
sprach auch die höchste Entfaltung aller anderen Kategorien
1
: der
Einheit von Gott und Welt zu der Erkenntnis deus est esse, bei
Wahrung des Abstandes der Natur vom Geist, des Unsterblichkeits-
bewußtseins zur künftigen Gottesschau, geläutert von allen Seelen-
wanderungs- und anderen naturhaften Jenseitsvorstellungen, auch
von fesselnden Genien- und Ahnendiensten, und von den abgelei-
teten Kategorien wurde die Erlösung zum praktischen Mittelpunkt
der Religion, die Liebe zum Mittelpunkt der Sittlichkeit gesteigert.
Die Entfaltung der religiösen Kategorien im Christentum ist
nichts Einmaliges, sondern ein Vorgang, den wir auch heute noch
nicht für abgeschlossen halten, was nichts Geringeres als die i m -
mer n e u e V e r j ü n g u n s f ä h i g k e i t des Christenums be-
deutet.
Die Entfaltung der religiösen Kategorien schließt von Anfang an
auch eine Änderung des K u l t u s in sich. Daß überall, wo die
ersten Christen erschienen, Opferblut, Opferfeuer, magischer Göt-
terzwang und die vielen anderen Lasten und Greuel des Heidentums
wie mit einem Schlag aufhörten, kann nicht genug bestaunt werden
— höhere Kategorien beherrschten nun das Reale und Konkrete
im Verhältnis des Menschen zu Gott!
Diese religiösen Kategorien wurden in der mündlichen Über- /
lieferung wie in den heiligen Schriften bewahrt und konnten darum
sogar von den so erstaunlich schwachen Kräften der ersten Kirchen-
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Wie später genauer nachzuweisen.
24 Spann, Religionsphilosophie