[337]
371
tums bestehen. Indessen, die Urmythen sind Darstellungen der
Grundlagen des heidnischen Glaubens und diese Grundlagen sind
eben die religiösen Kategorien. Die Kategorien können aber nir-
gends fehlen.
Um die unvergleichliche Höhe des Christentums gegenüber an-
deren Religionen zu ermessen, gilt es gerade, die den Urmythen des
Heidentums im Christentum entsprechenden Gebilde aufzusuchen
und zu vergleichen. Ohne alles und jedes mythologische Element
müßte es sich ins Abstrakte verflüchtigen.
Wie sich früher ergab, folgt aus der Kategorie der G o t t v e r -
w a n d t s c h a f t des Menschen in den mythologischen Religionen
der Grundmythos von der g ö t t l i c h e n A b s t a m m u n g d e s
M e n s c h e n , und zwar in verschiedenen Formen: einzelner Göt-
tersöhne und Heroen oder göttlicher Könige oder ganzer Völker,
deren Vater dann Gott — als Nationalgott — ist; ferner (zusam-
men mit der Kategorie der Einheit von Gott und Welt) in den
Sagen von dem göttlichen U r m e n s c h e n oder makrokosmi-
schen Menschen, die zugleich theogonisch sind
1
. Während jedoch in
den heidnischen Mythen die Abstammung der Menschen von den
Göttern sinnfällig genommen wird, desgleichen in sinnfälliger und
damit auch pantheistischer Weise das Weltall aus den Teilen des
Urmenschen oder makrokosmischen Menschen gemacht erscheint,
so daß etwa der Himmel sein Haupt, die Erde seine Füße, Sonne
und Mond seine beiden Augen darstellten, also ein naturalistisches
Bild entworfen wird, bietet das Christentum in der Idee des G o t t -
m e n s c h e n und der darin gesetzten Einheit von Gott und
Mensch Entsprechungen von vollkommenerer Art. Denn an die
Stelle der beiden sinnfällig-naturalistischen Bilder der leiblichen Ab-
stammung des Menschen von Gott und des materiell-kosmogoni-
schen Wesens des Urmenschen tritt mit der Idee des Gottmenschen
im Christentum der L o g o s oder das ewige Schöpfungswort Got-
tes. Aus ihm geht das mystische Haupt der Menschheit und der
Kreaturen in Christus hervor, womit eine Entsprechung gegeben
ist, welche einen von jenem Naturalismus und Pantheismus befrei-
ten Lehrbegriff darstellt. Der ideale Urmensch oder makrokosmische
Mensch ist nun „der Erstgeborene aller Kreatur“
2
; er wird, plato-
1
Vom Theogonischen sogleich unten.
2
Korintherbrief 1, 15.
24*