I. Das Wesen des Denkens und das Verhältnis von Denken und Sein
A.
D a s D e n k e n
1.
Lehrgeschichtlicher Überblick
Die Einsicht in das Wesen des Denkens wurde in den letzten
zweihundert Jahren durch das Vordringen der naturalistisch-sensua-
listischen Richtungen getrübt. Der Sensualismus fand seinen rein-
sten Ausdruck in der Assoziationspsychologie, auf die man immer
wieder zurückgehen muß, um die Fragestellungen und die Lage der
heutigen Wissenschaft zu verstehen. Ihr zufolge entstünden aus den
Sinneseindrücken Vorstellungen, und aus dem „Vorstellungsver-
lauf“ entstünde das Denken. Der Vorstellungsverlauf wäre durch
die den Naturgesetzen analogen „Assoziationsgesetze“ — der Be-
rührung und der Ähnlichkeit — bestimmt. Das D e n k e n w ä r e
d a r n a c h e i n N a t u r v o r g a n g ! „Wir können nicht den-
ken, wie wir wollen, sondern wir müssen denken, wie die gerade
vorhandenen Assoziationen bestimmen.“
1
So der entschiedene,
klare, aber man muß auch sagen primitivste / Standpunkt. Ihm ist
assoziativ bestimmter Vorstellungsablauf („Ablauf“ — ein physika-
lisch-naturwissenschaftlicher Begriff!) und Denken zuletzt einerlei.
Deutlich sagt dies unter anderem auch Adolf Stöhr: „Ein anschau-
licher Begriff einfachsten Baues“ (z. B. des Kreises) „ist ein bestimm-
ter Fall von Ideenreproduktion, der sich durch einen b e h a r r e n -
d e n R e p r o d u z e n t e n auszeichnet. Die Vorstellung des ge-
handhabten Zirkels beharrte so lange, als die Begriffsbildung statt-
fand“
2
.
1
Theodor Ziehen: Leitfaden der physiologischen Psychologie, 11. Aufl., Jena
1920, S. 171.
2
Adolf Stöhr: Lehrbuch der Logik in psychologisierender Darstellung, Leip-
zig 1910, S. 2.