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stand der Neukantianismus, welcher im Sinne Kantens geltend
machte, das Denken sei ein Akt der „synthetischen Einheit“ im Ur-
teil, der Grundgestalt der Erkenntnis, sei „Einheit eines Mannig-
faltigen“. So unter anderen Paul Natorp
1
. Und diese „Mannig-
faltigkeit“ soll zuletzt, wie beim Sensualismus, doch aus der Erfah-
rung kommen. Der Fehler dieser Ansicht liegt darin, daß eine
n a c h t r ä g l i c h e „Synthese“, welche eine „Einheit aus der
Mannigfaltigkeit“ schaffen / soll, unmöglich ist. Denn wie soll nach-
träglich aus Teilen eine Einheit werden? Und welche Art von Ein-
heit soll im Denken zum Unterschiede z. B. von der Kunst, wo
ebenfalls „Einheit in der Mannigfaltigkeit“ (der Gestalten nämlich)
herrscht, bestehen? In Wahrheit kann aus vielem nie eins werden —
umgekehrt: nur die Einheit kann sich in vieles ausgliedern, ver-
mannigfaltigen!
2. Das Wesen des Denkens
Das Wesen des Denkens kann nur aus einer zusammenhängenden
Geisteslehre heraus verstanden werden. Eine solche entwarf erstmals
F i c h t e . Nach ihm ist der Geist: erstens Selbstsetzung, zweitens
Selbstentgegensetzung. Die Selbstentgegensetzung ist die Objekti-
vierung des Gedachten.
S c h e l l i n g u n d H e g e l übernahmen diesen Begriff des Gei-
stes wie auch B a a d e r . Der Geist ist ihnen allen, wie Fichten:
Subjekt-Objekt.
Ganzheitlich gesehen hat das auf diese Weise von Fichte für ewige
Zeiten endgültig erklärte Bewußtsein (der Geist) folgenden inneren
Stufenbau:
a. Der höchsten Rückverbundenheit des Menschen entspricht das
Übersinnlichkeitsbewußtsein ( G l a u b e als ursprüngliches, nicht
abgeleitetes Bewußtseinselement).
b. Das Gezweiungs- oder Gemeinschaftsbewußtsein, welches dem
Aneinanderwerden der menschlichen Geister entspringt und ein un-
mittelbares Innewerden des anderen Geistes in sich schließt ( L i e b e
als ursprüng- / liches, nicht als von „Gefühlen“ usw. abgeleitetes Be-
wußtseinselement).
1
Paul Natorp: Logik, 2. Aufl., Marburg 1910, S. 13.