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tungsloses Urteil“ (Meinong, Benno Erdmann) oder als ein „unvoll-
ständiges Urteil“ (Sigwart und andere) bestimmt wird, so mag dies
mehr oder weniger zutreffen, es bleibt jedenfalls im Äußeren
stecken. Die Frage z. B.: „Wo liegt der Hund begraben?“ läßt wohl
das eine Glied des Urteils unbestimmt (das örtliche „Wo“), aber
wieso aus dieser Unbestimmtheit die Frage entspringt, woher also
die Frage, das ist damit nicht einmal angedeutet. Solche Begriffserklä-
rungen sagen in Wahrheit nicht mehr, als die Armut käme von der
pauvreté: Das Unvollständige, „Geltungslose“ käme / vom „Unvoll-
ständigen“ und dergleichen mehr. Woher aber wird das Unvoll-
ständige fraglich?
Eine tiefere Besinnung über die Bedeutung des Fragens für die
Logik fand ich lediglich bei Teichmüller
1
. Er legt richtig dar, wie
schon Platon bemüht war, das Erweckende im Denken aufzuspüren,
und es im W i d e r s p r u c h e fand, welcher eben die F r a g e
selbst schon bedeute
2
; wie dann Aristoteles diesen Gedanken auf-
nahm und weiter entwickelte, desgleichen Fichte und Hegel, die be-
kanntlich den kontradiktorischen Widerspruch als das Bewegende
von Sein und Denken behandelten. Er selbst erklärt dann die Frage
als aus einem „unbefriedigten Gefühle“ hervorgegangen oder als
„das Begehren, von einer unbestimmten Erkenntnis zu einer be-
stimmten und befriedigenden überzugehen“
3
.
Diese Begriffserklärung dünkt uns aber weniger tief als die pla-
tonisch-aristotelisch-hegelische (die man übrigens auch schon hera-
klitisch nennen muß). Denn: Woher das unbefriedigende Gefühl, das
Begehren nach „bestimmterer“ Erkenntnis?
Der Hinweis auf den „Widerspruch“, der von Heraklit ausging,
deutet in die tiefen Geheimnisse aller geistigen wie körperlichen Be-
wegung. Aber der echte Ganzheitsbegriff vermag noch den Begriff
des Widerspruches zu überhöhen: Es ist der Begriff der gliedhaften
Ergänzungen, der konträren Gegensätze, die zusammengehören, um
ein Ganzes zu bilden, und zwar nach Stufenbau und Teilinhalt. Der
Widerspruch dagegen geht nur aus einer Fehlausgliederung hervor. /
1
Gustav Teichmüller: Neue Grundlegung der Psychologie und Logik, hrsg.
von Jacob Ohse, Leipzig 1889, S. 300 ff.
2
Platon: Staat, 523 ff.
3
Gustav Teichmüller: Neue Grundlegung der Psychologie und Logik, hrsg.
von Jacob Ohse, Leipzig 1889, S. 306.