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die Eingebungsschwäche. Beide hängen auch zusammen und beruhen
in gewissem Sinne auf Gegenseitigkeit.
Im Vordergrunde steht die W i l l e n s e i n s t e l l u n g als
Grund des begrifflich entwickelten Irrtums. Wille ist zwar ebenso-
wenig selbst schon Denken wie die Sinneswahrnehmung, aber da-
durch, daß der Wille dauernd den fortgesetzten Denktätigkeiten das
Ziel weist, kann er das Denken in jedem Teile verfälschen. Die
Grundtatsache ist hier, daß der Denkfortgang n i c h t a u s -
s c h l i e ß l i c h a u s d e m B e g r i f f s - u n d S a c h z u s a m -
m e n h a n g e s e l b s t b e s t i m m t w i r d , sondern durch Vor-
liebe, Voreingenommenheit, Vorteile, Bedürfnisse, Triebe des Den-
kers und Forschers eine Beeinflussung erfährt.
Es zeigt sich hier einerseits eine offenkundige E i n g e b u n g s -
s c h w ä c h e , andererseits (damit eng zusammenhängend) ein
mangelhafter W a h r h e i t s s i n n mit dieser / Trübung der rich-
tigen Denkfolge durch den Willen verknüpft. Denn ist die Einge-
bung tief und mächtig, so durchdringt und beseelt sie den Denker
derart, daß er sich durch ablenkende Willenseinflüsse kein falsches
Denkziel stecken läßt. Nur bei schwächerer Eingebung kann daher
der Wahrheitssinn des Denkers und Forschers leiden. Rein vom
Standpunkte der Theorie der Irrlehre aus erkennen wir hier die
große Bedeutung des vielberufenen Wortes:
amicus Platon, sed magis amica veritas; Platon ist mir lieb, aber
noch lieber ist mir die Wahrheit
1
.
Indessen ist der Lehrbegriff des Irrtums damit noch nicht genü-
gend begründet. Die Sachlage ist weit verwickelter! Wenn nämlich
jene Zusammenhänge, auf welche sich die falschen Lehrmeinungen
stützen, ganz und gar nicht bestünden, — dann käme nicht einmal
eine falsche Lehre, kein falscher Lehrbegriff, der diesen Namen ver-
diente, zustande, sondern nur Widerspruch, Willkür, Unsinn oder
gar Lüge. Das ist aber dann keine Wissenschaft, keine Denkschöp-
fung, kein begrifflich entwickelter Irrtum mehr.
Das Bemerkenswerte ist vielmehr gerade, daß die durch Vor-
urteile beeinflußten Theorien stets einen W a h r h e i t s k e r n i n
1
Aristoteles: Nikomachische Ethik, übersetzt und erläutert von Ernst Rolfes,
2. Aufl., Leipzig 1921 (= Philosophische Bibliothek, Bd 5), I, 4, 1096 a 16: „Von
zwei Freunden, Platon und der Wahrheit, muß man die Wahrheit vorziehen.“