S i e b e n t e r A b s c h n i t t
Seelenlehre
Wer Meister Eckeharts Seelenlehre in ihrem tieferen Sinne ver-
stehen will, muß dessen stets eingedenk sein, daß es ihm ausschließ-
lich auf den Zusammenhang der Seele mit Gott ankomme, alles
mehr Begriffliche, alle Lehre von den Kräften und dem sonstigen
äußeren Bau der Seele dagegen keine Bedeutung für ihn haben. Er
übernimmt aber diese besonderen Lehren aus Augustinus, Aristo-
teles, Thomas mehr oder weniger unbekümmert.
An die Spitze und wie als einen Leitfaden können wir daher fol-
gende Worte aus dem Baseler Druck von 1521 stellen:
„Ein jeglich Ding ruhet in der Stätte, daraus es geboren ist. Wirf den Stein
in die Luft, er ruhet nicht, er komme denn wieder zur Erde. Wovon ist das?
Die Erde ist sein Land, die Luft ist sein Elend. Die Stätte, aus der ich geboren
bin, ist die Gottheit. Die G o t t h e i t i s t m e i n V a t e r l a n d . Hab ich
einen Vater in der Gottheit? Ja, ich habe allein meinen Vater da, mehr: ich habe
mich selber da. Ehe daß ich an mir selber ward, da war ich in der Gottheit
geboren.“
1
Was Meister Eckehart anging und einzig fesselte, würde man
heute eher überpsychologisch als psychologisch nennen, das Ver-
hältnis der Seele zu Gott. Dazu diente ihm der Begriff des Fünk-
leins, welchem wir ja in seiner ganzen Lehre immer wieder begeg-
neten und den wir darum an die Spitze unserer Darstellung setzten.
Der Begriff des Fünkleins fordert die Gottförmigkeit der Seele,
und dieser wieder muß der Aufbau aller Seelenkräfte in irgend
einer Weise entsprechen.
Demgemäß können wir nicht, wie in der heutigen Seelenlehre
üblich, mit der Darstellung der Seelenkräfte beginnen (wie sie Ecke-
hart mit seiner Zeit richtig nannte — denn dieser Ausdruck wurde
seither unserer sensualistischen Seelenlehre fremd); vielmehr ist es
nötig, seine Seelenlehre von oben herunter darzustellen.
1
Hans Martensen: Meister Eckhart. Eine theologische Studie, Hamburg 1842,
S. 17.