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„Die geistigen Kräfte altern nicht.“
1
„Der innere Mensch ist nicht in der Zeit oder in einem Orte, sondern in der
Ewigkeit.“
2
Es ist bekannt, daß F i c h t e in seiner Spätlehre — in der „Be-
stimmung des Menschen“ und der „Anweisung zum seligen Leben“
— dasselbe lehrte. Auch K a n t e n s „Intelligibles Ich“ ist so zu
verstehen.
Das Wesentliche der Lehre Eckeharts drückt, wie so oft, Angelus
Silesius in wenigen Worten aus:
„Die Kreatur ist mehr in Gotte denn in ihr;
Zerwird sie, bleibt sie doch in ihme für und für.“
3
II. Die Gliederung der Seelenkräfte
Eine Lehre von den Seelenkräften und ihrem Aufbau zu ent-
wickeln, lag nicht auf dem Wege Meister Eckeharts, wie bei einem
Mystiker seiner Höhe begreiflich ist. Daß er uns eine solche nicht
hinterließ, kann uns daher nicht wundern
4
.
Der grundsätzliche Aufbau der Seelenkräfte ist Eckehart damit
gegeben, daß das Fünklein als die W u r z e l allen besonderen
Kräften oder Vermögen zugrundeliegt (obwohl der Seelengrund
auch oft eine „Kraft“ genannt wird, wie aus den Ausführungen
ersichtlich).
Eckehart geht von der Gottförmigkeit der Seele aus. Sie äußert
sich in den Kräften darin, daß sie eine unbegrenzte Aufnahme-
fähigkeit haben. Während jedes Naturwesen nur eine oder doch nur
eine engst begrenzte Aufnahme- und Handlungsfähigkeit hat (wir
würden nach der heutigen Physik etwa Schwerkraft, Elektromagne-
tismus, Wärme bei den unorganischen Körpern nennen), ist die
Seele „gleichsam alle Dinge“; welch letzteren Satz daher Eckehart
von Aristoteles und Platon übernimmt. Diese Aufnahmefähigkeit
für alle Dinge, richtiger gesagt, dieses Enthaltensein aller Dinge
(latent) in der Seele sowie die daraus folgende unbegrenzte, die ge-
samte Ideenwelt in sich tragende Einbildungskraft (imaginatio) der
1
B 78.
2
B 79.
3
Vgl. auch die Belege aus der vorchristlichen Mystik über Unsterblichkeit in
meinem Buch: Religionsphilosophie auf geschichtlicher Grundlage, Wien 1947
[2. Aufl., Graz 1970.].
4
Vgl. Konrad Weiß: Die Seelenmetaphysik des Meisters Eckehart, in: Zeit-
schrift für Kirchengeschichte, Bd LII, Stuttgart 1934, S. 467 ff.