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186

Seele — sie ist das Zeugnis der einzigartigen Sonderstellung der

Seele in der gesamten Schöpfung, das Zeugnis ihrer Gottförmigkeit:

„Ez spredhent etlîche meister, diu sêle sî gemachet von allen dingen, want si

eine müglicheit hât alliu dinc zu verstânde. Ezliutet tôrlîche und ist doch wâr.“

1

„Unde swenne man fraget, wie grôz diu sêle sî, sô sol man wizzen, daz ir

groeze himel und erde niht ervüllen mac niwan got selber.“

2

„Die Seele, die alle Kreaturen unter ihren Füßen hat."

Und eben das ist die Göttlichkeit und Gottebenbildlichkeit der

Seele.

„Als gelîch hat er des menschen sêle gemhht nâch ime selber, daz in himel-

rîche noch in ertrîche gote niht sô glîch enist sô des menschen sêle alleine.“

3

Darum, nur die Seele faßt die ganze Welt, und sie allein faßt

auch Gott:

„Dô got alle crêatûren geschuof, dô wâren sie sô snoede unde sô enge, daz

er s i c h n i h t d r i n n e b e w e g e n m o h t e . Doch machte er ime die sêle

sô glîch und sô ebenmêzic, dur daz er sich der sêle gegeben möhte;“

4

Und an diese Erkenntnis des innersten Wesens der Seele schließt

Eckehart sogleich wieder die Begründung der Abgeschiedenheits-

lehre an:

„Har umbe wil got disen tempel ledig haben, daz ouch niut mê dâ inne sî

denne er alleine.“

5

Aber ebenso wie in der Sittenlehre folgt aus diesem Leermachen

für Gott auch in der Seelenlehre nicht Weltflucht und Quietismus;

vielmehr lautet auch hier die Losung: „Durch die Welt hindurch!“

„Je m e h r d i e S e e l e h a t g e s a m m e l t , j e e n g e r s i e i s t ,

u n d j e e n g e r s i e i s t , j e w e i t e r s i e i s t.“

6

1

Pf. 97, 31: Etliche Meister sagen, die Seele sei aus allen Dingen gemacht,

weil sie die Möglichkeit hat, alle Dinge zu erkennen. Es klingt töricht und ist

doch wahr.

2

Pf. 413, 25: Und wenn man fragt, wie groß die Seele sei, so soll man

wissen, daß ihre Größe nicht durch Himmel und Erde, sondern nur durch Gott

selber erfüllt werden kann.

3

Pf. 33, 32: So gleich ihm selber hat er (Gott) des Menschen Seele gemacht,

daß weder im Himmelreich noch auf Erden etwas der Menschenseele gleicht.

4

Pf. 136, 34: Als Gott alle Kreaturen erschaffen hatte, waren sie so gering-

wertig und so eng [sie entsprechen nämlich nur einer Idee oder Ideengruppe],

daß er sich in ihnen nicht regen konnte. Die Seele jedoch machte er sich so gleich

und so ebenbildlich, auf daß er sich der Seele geben könne.

5

Pf. 33, 34: Darum will Gott diesen Tempel leer haben, damit denn auch

nichts weiter darin sei als er allein.

6

Konrad Weiß: Die Seelenmetaphysik des Meisters Eckehart, in: Zeitschrift

für Kirchengeschichte, Bd LII, Stuttgart 1934, S. 13.