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Seele — sie ist das Zeugnis der einzigartigen Sonderstellung der
Seele in der gesamten Schöpfung, das Zeugnis ihrer Gottförmigkeit:
„Ez spredhent etlîche meister, diu sêle sî gemachet von allen dingen, want si
eine müglicheit hât alliu dinc zu verstânde. Ezliutet tôrlîche und ist doch wâr.“
1
„Unde swenne man fraget, wie grôz diu sêle sî, sô sol man wizzen, daz ir
groeze himel und erde niht ervüllen mac niwan got selber.“
2
„Die Seele, die alle Kreaturen unter ihren Füßen hat."
Und eben das ist die Göttlichkeit und Gottebenbildlichkeit der
Seele.
„Als gelîch hat er des menschen sêle gemhht nâch ime selber, daz in himel-
rîche noch in ertrîche gote niht sô glîch enist sô des menschen sêle alleine.“
3
Darum, nur die Seele faßt die ganze Welt, und sie allein faßt
auch Gott:
„Dô got alle crêatûren geschuof, dô wâren sie sô snoede unde sô enge, daz
er s i c h n i h t d r i n n e b e w e g e n m o h t e . Doch machte er ime die sêle
sô glîch und sô ebenmêzic, dur daz er sich der sêle gegeben möhte;“
4
Und an diese Erkenntnis des innersten Wesens der Seele schließt
Eckehart sogleich wieder die Begründung der Abgeschiedenheits-
lehre an:
„Har umbe wil got disen tempel ledig haben, daz ouch niut mê dâ inne sî
denne er alleine.“
5
Aber ebenso wie in der Sittenlehre folgt aus diesem Leermachen
für Gott auch in der Seelenlehre nicht Weltflucht und Quietismus;
vielmehr lautet auch hier die Losung: „Durch die Welt hindurch!“
„Je m e h r d i e S e e l e h a t g e s a m m e l t , j e e n g e r s i e i s t ,
u n d j e e n g e r s i e i s t , j e w e i t e r s i e i s t.“
6
1
Pf. 97, 31: Etliche Meister sagen, die Seele sei aus allen Dingen gemacht,
weil sie die Möglichkeit hat, alle Dinge zu erkennen. Es klingt töricht und ist
doch wahr.
2
Pf. 413, 25: Und wenn man fragt, wie groß die Seele sei, so soll man
wissen, daß ihre Größe nicht durch Himmel und Erde, sondern nur durch Gott
selber erfüllt werden kann.
3
Pf. 33, 32: So gleich ihm selber hat er (Gott) des Menschen Seele gemacht,
daß weder im Himmelreich noch auf Erden etwas der Menschenseele gleicht.
4
Pf. 136, 34: Als Gott alle Kreaturen erschaffen hatte, waren sie so gering-
wertig und so eng [sie entsprechen nämlich nur einer Idee oder Ideengruppe],
daß er sich in ihnen nicht regen konnte. Die Seele jedoch machte er sich so gleich
und so ebenbildlich, auf daß er sich der Seele geben könne.
5
Pf. 33, 34: Darum will Gott diesen Tempel leer haben, damit denn auch
nichts weiter darin sei als er allein.
6
Konrad Weiß: Die Seelenmetaphysik des Meisters Eckehart, in: Zeitschrift
für Kirchengeschichte, Bd LII, Stuttgart 1934, S. 13.