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Begriff einer „Reinigung“ (

κάΰαρσις),

die von der Tragödie aus-

gehe, wird uns später beschäftigen.

Der neuplatonische Mystiker

Plotin

(

269 n. Chr.) ergriff den

Hauptgedanken Platons und erklärte das Schöne als das Durch-

scheinen, „gleichsam das Hervorstrahlen“ der Idee aus dem Gegen-

stande

1

. Indem Plotin diesen Gedanken ganz in den Vordergrund

stellt und das Schöne nicht durch Nachahmung mit dem Sinnlichen

und Nützlichen zusammenfließen läßt, erhebt er die Kunst zur Dar-

stellung und Nachahmung der übersinnlichen Wesenheiten, Ideen,

nicht aber der sinnlichen Natur. Man kann sagen, zum erstenmal

erscheine hier die Kunst klar als eine eigene Art von Wirklichkeit,

welche der sinnlichen Welt folgerecht entgegengestellt wird! In der

Kunst siegt die Idee über den Stoff, die Seele über den Leib, die

Vernunft über die Seele; ganz allgemein: das Höhere über das

Niedere. Nicht das Gleichmaß, die „Symmetrie“ der äußeren

Erscheinung, sondern das Innere, die Herrschaft der Idee, also des

Höheren macht das Schöne.

Weitere Überlegungen, welche zu einem Begriffsgebäude der

Philosophie der Kunst geführt hätten, widmete Plotin dem Schönen

nicht.

Von Plotin bis zur Begründung der Ästhetik oder Kunstphilo-

sophie durch Baumgarten und Kant klafft eine Leere von geradezu

anderthalbtausend Jahren. Die Ästhetik ist eine durchaus deutsche

Wissenschaft.

Wohl behandelte der Kirchenvater A u g u s t i n u s (354—430

n. Chr.) das Schöne, aber ganz im Sinne Plotins und Platons; ähn-

lich T h o m a s v o n A q u i n o (1225—1274) unter gleich-

zeitigem Rückgange auf Aristoteles. Aber zu selbständigen Lehr-

begriffen kam es dabei nicht. Ebensowenig in der R e n a i s s a n c e ,

in welcher die Kunst hochgeschätzt wurde wie nie zuvor, indem sie

als Entwicklung des inneren Lebens erschien. Eine neue Kunstlehre

wurde dabei nicht ausgebildet, man begnügte sich mit den allgemei-

nen Gesichtspunkten Platons und Plotins.

Erst

Alexander Gottlieb Baumgarten,

der Leibniz-Wolffischen

Schule der Philosophie angehörig, findet in seinem Werke „Aesthe-

1

Plotin: Enneaden, VI, 2,18 und V, 8, 1.