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Zur Beurteilung: Kant konnte seine neue, große Lehre vom Schönen nur aus
dem Begriffszusammenhange seiner Philosophie begründen. Darum blieb bei aller
Genialität einiges strittig. Indem er vom „Wohlgefallen“ am Schönen sprach und
in gewissen Zusammenhängen das „Gefühl“ dafür in Anspruch nahm
1
, war die
Abgrenzung des Schönen vom Subjektiven, Wechselnden, also Empirischen, daher
von dem, was man heute „Psychologie des Gefühls“ oder „Psychologismus“ über-
haupt nennt, unklar. Ferner sollte nach Kant gemäß einigen Stellen eigentlich bloß
die F o r m schön sein
2
; ja die Form selbst das Wesentliche der Kunst sein
3
.
Dadurch bleibt die Bestimmung des Verhältnisses der Form zum Gehalte unklar
(andererseits wird die Stellung der Form wieder eingeschränkt).
Dennoch sind durch Kantens Lehre die wichtigsten D e n k a u f -
g a b e n d e r K u n s t p h i l o s o p h i e ein für allemal bezeich-
net: das Verhältnis des Schönen zum Nützlichen, zum Wahren,
zum sittlich Guten; ferner auch das Verhältnis von Gestalt und
Gehalt (von Form und Stoff); endlich Ichheit und Gegenständ-
lichkeit, das heißt, von Subjektivität und Objektivität im Schönen,
sowie die damit zusammenhängende Rolle des Übersinnlichen,
welche Kant in der Allgemeingültigkeit des Geschmacksurteils und
in seinem Begriffe des Erhabenen bedeutsam behandelt.
Diese Aufgabe ergriff der deutsche Idealismus zuerst in der von
Fichte vorbereiteten Kunstphilosophie Schellings.
Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling
(1775—1854) hatte in
seiner „Naturphilosophie“ die Begriffsmittel geschaffen, über Kant
hinauszugehen. Die Natur war ihm in ihrem letzten Wesen herab-
geminderter Geist, welcher, sich immer höher entfaltend, wie Odys-
seus zum Schlusse im Menschen schlafend seine Heimat findet. Das
heißt: das Absolute stellt sich ihm nicht nur im menschlichen
Geiste, sondern auch in der Natur dar.
Darum konnte Schelling den großen Gedanken fassen, daß das
A b s o l u t e s i c h v e r m ö g e i n n e r e r N o t w e n d i g -
k e i t a l s S c h ö n h e i t o f f e n b a r e : Die Schönheit war
ihm die Einerleiheit des Unendlichen und Endlichen, des Idealen
und des Realen, das heißt des Geistes und der Natur (welche ja in
ihrem Kerne, wenn auch geschwächter, Geist war), des Übersinn-
lichen und des Sinnlichen, der Notwendigkeit und der Freiheit; sie
war ihm diese Einerleiheit in sinnlicher Erscheinung.
1
Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, 3 ff.; 30 und öfters.
2
Kant: Kritik der Urteilskraft, ..., Bd V, S. 223 (die ästhetischen Urteile
sind formale Urteile).
3
Kant: Kritik der Urteilskraft, ..., Bd V, S. 325 f.