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Die mystisch-magische Art dieser Stelle ist unverkennbar. Manche andere,
ähnliche Züge wären noch zu nennen. Wir begnügen uns, noch auf Odyssee XIII,
187 ff. hinzuweisen, wo Odysseus die Heimat, die er im Schlafe fand, nicht als
seine Heimat wiedererkennt (ein Sinnbild mystischer Erfahrung); ferner auf die
romantisch anmutende Mystik der bekannten Stelle in der Ilias (VI, 146 ff.), die
allerdings nicht in neuzeitlicher Weise als Zweifel an der Unsterblichkeit aus-
zulegen ist;
Gleich wie Blätter im Walde, so sind die Geschlechter der Menschen;
Blätter verweht der Wind nun, andere treibt dann
Wieder der knospende Wald, wann neu auflebet der Frühling:
So der Menschen Geschlecht, dies wächst und jenes verschwindet.
Suchen wir in der Neuzeit nach einem Gleichnisse des erhabenen Stils Homers,
so drängt sich wohl der Gedanke an G o e t h e s „Hermann und Dorothea“
auf; aber es fehlt der große Stoff.
Ein wahres Gleichnis des homerischen Stils finden wir ferner in der Tonkunst.
Die großen Tonwerke B a c h s , H a n d e l s , G l u c k s , M o z a r t s , S c h u -
b e r t s (Beethovens Stil ist oft gewaltsamer, titanischer, als es der Vergleich mit
Homer erlaubte) zeigen jene anhaltende Gesammeltheit, Dichte, Unmittelbarkeit
und heilige Rückverbundenheit, welche Homer sonst so unerreichbar machen.
Wie ist diese Übereinstimmung des Stils der klassischen Musik von Bach bis
Schubert mit Homer zu erklären?
Die Musik ist die metaphysischeste aller Künste! Das ist die Antwort. Sie
trifft daher auch mit dem tiefsten Urgrunde des homerischen Stils zusammen!
Der steten, nicht ausdrücklich als solche hervortretenden Rückverbundenheit des
Lebens in der göttlichen Welt, anders ausgedrückt in der v e r h a l t e n e n
M y s t i k . Sie allein erklärt auch die Erhabenheit des Stils.
Äußerlich gesehen, ist an Homer freilich wenig von Mystik zu spüren, ent-
sprechend dem Geheimnis, in welches jede Mystik in alten Zeiten gehüllt war.
Notwendig liegt sie aber bis zu einem gewissen Grade schon in jenem steten
Umgange mit den Göttern und den göttlichen Mächten, welche die Natur durch-
walten.
Gegen diese unsere Erklärung des homerischen Stils ließe sich ein E i n w a n d
nur durch den Hinweis auf andere Epen ähnlicher polytheistischer Zeiten (die
alle zugleich mystische waren) erheben: Warum sind sie den homerischen nicht
gleichzustellen? Besonders wäre hier an das altindische Epos „Mahabharatam“
zu denken.
Die Antwort lautet: Die polytheistische Welt der Inder hat nicht dasselbe
Gepräge wie jene der Griechen!
Das „Mahabharatam“ hat zwar einen ähnlich erhabenen Stil wie Homer
(soweit aus den heute zugänglichen Teilen durch Übersetzungen zu urteilen); es
ist jedoch formloser; und ferner von großen philosophischen Gesprächen als
Einlagen unterbrochen. Paul Deussen gab vier solcher Gespräche in deutscher
Übersetzung heraus, welche einen stattlichen Band füllen
1
.
Der Hinweis auf verhältnismäßige Formlosigkeit genügt allein schon, um den
Unterschied von Homer zu erklären: Es war doch eine andere, leidenschaftlicher
1
Vgl. Vier philosophische Texte des Mahabharatam (Santsujata-Parvan; Bha-
gavadgita; Mokshadarma; Anugîtâ), in Gemeinschaft mit Otto S t r a u ß aus
dem Sanskrit übersetzt von Paul Deussen, Leipzig 1906.