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So auch das künstlerische Urteil. Wer Homer liest, kann von der

Eingebungsfülle des Dichters geradezu bestürmt werden und über-

strömen. Wer aber die Fähigkeit der Erweckung seiner Eingebun-

gen in sich nicht hat, wird an den äußeren Vorstellungen, die mit

des Dichters Worten verbunden sind, hängen bleiben und nur ihren

geringsten Gehalt in sich erwecken, das heißt, „nüchtern“ bleiben.

Eingebungsnähe also ist die unerläßliche Fähigkeit des Kunst-

richters, jene Fähigkeit, dieselben Eingebungen, auf denen das

Kunstwerk beruht, in sich selbst zu erwecken.

Wie die höheren Wahrheiten der Wissenschaften nicht jedem

zugänglich sind, so auch nicht die höheren Schönheiten der Künste!

Und wie das Wahre immer wahr, so ist das Schöne immer schön,

auch wenn es nicht als solches erkannt wird. Der pythagoräische

Lehrsatz bleibt wahr, gleichgültig, ob ihn jemand begreift oder

nicht; Homer bleibt schön und am schönsten, gleichgültig, ob ihn

die heutige Kunstverwilderung gelten läßt oder nicht. Die Musik

Bachs, Händels, Glucks, Mozarts bleibt schön und am schönsten,

gleichgültig, ob jene künstlerische Unterwelt, welche in ihr nicht

mehr zu wohnen vermag, dies anerkennt oder nicht.

Gewisse hohe Kunstwerke, wie z. B. die Märchen, haben eine

solche Eingebungsfülle, daß sie sowohl Kindern wie Reifen und

Genialen etwas bedeuten. Mozarts „Zauberflöte“ bedeutet den Kin-

dern ein lichtes Märchenspiel, den Wissenden ein Mysterium, das

von den höchsten Dingen handelt. So alle wahrhaft großen Kunst-

werke.

Dieses ist das wunderbare Triebwerk der Geschichte in der Be-

urteilung des Großen: Das nur teilweise Verstehen der hohen

Schönheit großer Werke widerlegt noch nicht den Umstand, daß

noch unverstandene Schönheiten zurückblieben. Aber es kommt

einmal die Zeit, wo auch diese entdeckt, verstanden und der Nach-

welt nahe gebracht werden. Eine solche geschichtliche Stunde schlug

z. B., als Winckelmann die griechische Kunst, als Lessing, Goethe,

Tieck und die Gebrüder Schlegel der staunenden Welt Shakespeare

verständlich machten, indem sie die Eingebungen, auf denen jene

Leistungen beruhen, wecken halfen.

Von hier aus fällt auch ein Licht auf die Begriffe: G e s t a l -

t u n g s s i n n u n d S i n n f ü r R ü c k v e r b u n d e n h e i t ,

welchen wir auch mit Novalis’ „heiligem Sinn“, ferner auch Begei-