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Insofern das Schöne ebenso auf Eingebung zurückgeht wie das
Wahre, wohnen beide allerdings nahe beieinander. Aus demselben
Grunde spricht man auch mit Recht von „künstlerischer Wahrheit“
oder „innerer Wahrheit“ des Schönen. Denn nur bei zugrunde lie-
gender Eingebung und bei ebenbildlicher Gestaltung der Eingebung
hat das Schöne Wahrheit in sich. Mit Recht sagt daher Novalis: „Je
poetischer, je wahrer.“
Auch darin gleichen sich Wahrheit und Schönheit, daß der Begriff
Wahrheit erlangt, wenn er mit der Eingebung übereinstimmt (wor-
aus sich dann auch die Übereinstimmung mit dem Gegenstande er-
gibt); die Gestalt aber Schönheit erlangt, wenn sie die Eingebung
getreu, ebenbildlich wiedergibt.
Hieraus ist die innigste Verwandtschaft von Wahrheit und
Schönheit abermals verständlich! N i c h t n u r d e r G e l e h r t e ,
a u c h d e r K ü n s t l e r m u ß a u s d e r T i e f e s e i n e s
W e s e n s W a h r h e i t s s i n n h a b e n . Der Wahrheitssinn ist
aber kein rein ethischer Begriff!
Hierzu bedarf es nur folgender Einschränkung. Das Wahre gibt
die Eingebung durch treue Vergegenständlichung im Begriffe un-
mittelbar wieder; das Schöne gibt sie durch die S i n n b i l d -
1 i c h k e i t e n mehrerer Ebenen, der zeitlichen, räumlichen, sinn-
lich-stofflichen, wieder.
Dadurch entstehen allerdings Verschiedenheiten; jedoch können
diese niemals den Kern der Sache angreifen. Shakespeare gestaltet
z. B. im „Macbeth“ Wesen und Werden des Cäsarenwahns aus einer
ewig gültigen Eingebung heraus in kristallener Klarheit. Jeder
wahre Begriff desselben, der „psychologische Begriff“, müßte genau
mit dem Kerne des shakespearischen Dramas übereinstimmen, ob-
wohl im psychologischen Begriffe nichts von Hexen und Weissagun-
gen vorkommt. Jede Herrschergewalt, die in Cäsarenwahn ausartet,
weissagt sich eben selbst, daß sie sich unüberwindlich machen könne;
sie findet dafür auf welche Weise immer Gründe und bedarf dazu
nicht gerade der Hexen. Und gibt es eine tiefere Wahrheit, als daß
der unablässig strebende Mensch, wie Homers Odysseus, zuletzt
s c h l a f e n d seine Heimat finde; daß, „wer strebend sich be-
müht“, wie Goethes Faust, erlöst werden könne; als daß jeder
geschichtliche Mensch, der politische, kriegerische und geistige, einen
Auftrag von oben, und sei es nur durch seine Begabung, erhalte, sich