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aber jenes Stück Geschichte, das er formt, nach dem freien Einsatz

seines Willens und seiner Kraft gestalte, ganz wie es Schiller in der

„Jungfrau von Orleans“ darstellte; tiefere Wahrheiten als sie

Michelangelo, Leonardo, Grünewald, Dürer, Raffael in ihren großen

Gemälden, Bach, Mozart, Beethoven, Schubert im „Credo“ ihrer

Messen darstellten?

Die nur sinnbildlich mögliche Gestaltung der Eingebung im

Schönen wird mit dem Kerne des Begriffes in ihrem Wahrheits-

gehalte stets wetteifern können. Darum auch die heutige, über-

scharfe, „positivistische“ Trennung von Kunst und Wissenschaft,

Gestalt und Begriff ein Schaden des Kunstlebens ist. Platon kannte

eine solche durchgängige Trennung noch nicht; ebenso wenig wie

die Upanischaden, Laotse, Konfuzius.

Auch wenn wir weit abliegende Stile wie den chinesischen,

indischen, altgriechischen heranziehen, stets wird sich ergeben: Alles

Schöne hat Wahrheit zur Grundlage, und nur aus dem Wahren,

dem Sachgehalte der Eingebung kann das Schöne gestaltet werden.

Die unverletzte Eingebung aber ist die Wahrheit selbst.

Diesem Verhältnisse des Wahren und Schönen entspricht es, auch

im Schönen mit Recht von „Folgerichtigkeit“ besonders dort zu

sprechen, wo, ähnlich den logischen Schlußketten, ein Fortgang in

der Zeit stattfindet, so im Drama und der Symphonie.

III. Das Schöne und das sittlich Gute

A.

Das g r u n d s ä t z l i c h e V e r h ä l t n i s

Das Schöne ist nicht einerlei mit dem Guten, die Kunst nicht mit

dem Sittlichen.

Sittlichkeit ist ihrem Wesen nach alles jenes Wollen und Handeln,

welches auf Verwirklichung des Vollkommenen auf dem Gebiete

des Geistigen wie des Wirkens gerichtet ist; kurz gesagt, alle Ver-

vollkommnung und Wiedervervollkommnung.

Hierbei ist vorausgesetzt, daß das sittlich Gute und Vollkommene nicht im

Sinne des Höchstmaßes an Lust (Hedonismus) oder, was dasselbe ist, an Nutzen

und sinnlicher Wohlfahrt (Utilitarismus, Eudaimonismus) verstanden werde

1

.

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Eine ausführliche Begründung des Begriffes der Sittlichkeit als Vervoll-