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D. Die P f l i c h t z u m S c h ö n e n
Da der Begriff der Pflicht bisher ausschließlich der Sittenlehre an-
gehört, kommt in der Kunstphilosophie die Pflicht zum Schönen
nicht vor. Dennoch gibt es eine Pflicht zum Schönen.
Wie durch die Teilnahme am Schönen der Kunstgenießende eine
Erweiterung seines inneren Lebens erfährt, wurde soeben gezeigt:
Der L e b e n s w e r t d e r K u n s t ist es, welcher die Pflicht
zum Schönen begründet. Dieser Lebenswert ist ja auch ein Beitrag,
und zwar ein wesentlicher, zur Vervollkommnung und Wieder-
vervollkommnung des Menschen; auf welche wir früher das Wesen
des Sittlichen gegründet sahen.
Die hierauf beruhende Pflicht zum Schönen scheinen uns Goethe
und Schiller in einem Xenion anzudeuten:
An die Muse
Was ich ohne dich wäre, ich weiß es nicht; aber mir graut es,
Seh’ ich, was ohne dich hundert’ und tausende sind.
Auf die Erweiterung des Bewußtseins und Vertiefung des inne-
ren Lebens der Menschen durch die Teilnahme an den Geschenken
der Muse zielen auch folgende bekannte Worte im „Faust“:
Ich hab’ es öfters sagen hören,
Ein Komödiant könnt’ einen Pfarrer lehren.
Vertieft und erweitert das Leben im Schönen den Geist des Men-
schen, dann müssen wir auch behaupten, echte Kunst habe zu allen
Zeiten v e r j ü n g e n d auf die gesamte Kultur gewirkt; wie es
auch echte idealistische Philosophie vermag!
Hier steht nun unsere Zeit wieder arm und verdüstert da. Solche
Einsichten sind ihr fremd und kaum erschwinglich. Sie lebt im
Äußerlichen, und was da an Kunst noch übrig bleiben konnte, ver-
wandelt sich ihr mehr und mehr in Unkunst, Verehrung des Häßli-
chen und sogar des Dämonischen und des Krankhaften. Dieses wird
oft am lautesten gepriesen. Man erinnert sich da des Wortes von
Demokrit: „Vergessen der eigenen Untaten erzeugt Frechheit“
1
,
nämlich Anpreisung der Untaten.
1
Hermann Diels: Die Fragmente der Vorsokratiker, Griechisch und Deutsch,
Demokrit, Fragment 196, Bd 2, 4. Aufl., Berlin 1922.