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B. B e u r t e i l u n g
Dieser kurze Blick auf die Lehrgeschichte zeigt uns schon die
ganze Schwierigkeit der Denkaufgabe, welche sich hier bietet.
Wir sehen sie wesentlich darin, daß, wenn man von den Sinnes-
organen ausgeht, an jeder Kunst mehrere, ja alle, nicht nur eines,
zugleich beteiligt sind; aber darüber hinaus noch mehr darin, daß
man mit dem Rückgange auf die Sinnesorgane die Aufgabe über-
haupt nicht lösen könne, da das G e i s t i g e in jeder Kunst die
Führung, den Vorrang hat!
Hinsichtlich der Sinnesorgane steht die Sache so, daß schon Zeit
und Raum, welche eine grundlegende Bedeutung für alle Künste
haben, nicht nur einzelnen Sinnen angehören. Die Zeit gehört außer
dem sinnlichen Leben — der Abfolge aller Sinnesempfindungen —
auch dem geistigen Leben selber, der Abfolge inneren, geistigen
Geschehens an (außer daß das Ohr Hauptorgan dafür ist, wozu
aber noch der Tastsinn und das Auge, sofern es Bewegungen, also
Abfolgen von Geschehnissen wahrnimmt, kommt). Der Raum so-
dann gehört bekanntlich von Haus aus mehreren Sinnesorganen an
(außer dem Sehraum gibt es einen Tastraum, wozu aber noch andere
Sinnestätigkeiten kommen). Wesentlich ist endlich noch die gegen-
seitige Erhellung der Sinne, so daß zuletzt mittelbar oder unmittel-
bar a l l e S i n n e a n a l l e n b e t e i l i g t s i n d .
Demgemäß wird z. B. ein taubstumm Geborener ein Gemälde,
ein Bauwerk, eine Bildnerei oder ein anderes Raumgebilde und
Raumkunstwerk n a c h d e r r e i n s i n n l i c h e n S e i t e hin
anders auffassen als der gewöhnlich Empfindende.
Daß keine Kunst auf ein einzelnes Sinnesorgan allein aufgebaut
sein könne, vielmehr a l l e S i n n e s o r g a n e zuletzt ins Spiel
kommen, folgt auch aus jener Grunderkenntnis der ganzheitlichen
Kategorienlehre, wonach jede Leistung (z. B. die des Atmens durch
Ausdehnung der Lunge) nur dadurch zustande kommt, daß sie von
allen anderen Organen und deren Leistungen aufgenommen, emp-
fangen wird (z. B. dem Herzen, welches Blut zupumpt, ferner den
beteiligten Nerven). So wird auch das Bewegte, welches ein Gemälde,
eine Bildnerei, eine Architektur darstellt, nicht nur vom Auge
wahrgenommen, sondern auch vom Muskelsystem als einem Träger
der Bewegungsempfindungen aufgenommen, die Baustoffbeschaffen-