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cher aber durch die Zeit- und Silbenmaße, ferner durch den sinn-
lichen Gehalt an Tönen — in den Selbst- und Mitlauten liegend —,
sodann durch die Betonungen (Akzente) der Silben und Worte,
sowohl für sich wie im Satzzusammenhange und auch im Gesamt-
zusammenhange von Satzgruppen als weiteren Gestaltungsmitteln
bereichert wird. Der Tonwert der Worte kommt hauptsächlich in
den Reimen zum Ausdrucke.
Die Dichtkunst ist in ihrer umfassendsten Form Schauspiel,
Drama im weitesten Sinne; darnach Epos, Erzählung (als Roman
und Novelle), erzählendes, epigrammatisches, lyrisches Gedicht.
Indem alle diese Gattungen der Dichtkunst das Wort zum Aus-
drucksmittel haben, welches aber unmittelbarer Ausdruck, des Gei-
stes, der Eingebung ist — Geist und Sprache hängen bekanntlich
aufs innigste zusammen —, haben wir in der Dichtkunst zweifellos
die K u n s t h ö c h s t e n u n d u n m i t t e l b a r s t e n G e i -
s t e s g e h a l t e s vor uns.
Durch Verbindung mit anderen Künsten, z. B. der Musik, kann
dieser noch gesteigert werden (worüber unten mehr).
Um sich die Geistesgewalt der Dichtung vor Augen zu halten,
denke man nur an die Faustmonologe, an Wanderers Sturmlied, an
Calderons „Leben ein Traum“, an Aischylos’ und Sophokles’ Tra-
gödien, an die altindische „Sawitri“ — um nur diese zu nennen!
Welche Fülle von Geist und Gemüt, aus der Tiefe des menschlichen
Wesens heraufgeholt! Welches Geheimnis der heiligsten, verborgen-
sten Eingebungen geoffenbart!
B. Die T o n k u n s t
hat die Ausdrucksmittel der Zeitgestaltung (des Rhythmus) in
freiester und vielgestaltigster Form; ferner der Töne mit ihren
unendlichen Abschattungen, den sogenannten Klangfarben, und mit
ihren Tonfolgen (Melodien) sowie mit ihren Einklängen und Miß-
klängen.
Es ist eine naturphilosophisch schwer zu begreifende — zuletzt
auf Zeitgestaltung, Rhythmus, zurückgehende — Tatsache, daß die
Welt der Töne in einem innigen, geheimnisvollen Entsprechungs-
verhältnisse zu den innersten Seelenregungen und Stimmungen des