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G o t t f r i e d K e l l e r , dessen geistiges Werden in die mate-

rialistische Hochflut des neunzehnten Jahrhunderts (Feuerbach!) fiel,

legt ein nur zu unzweideutiges Bekenntnis ab:

Ich hab’ in kalten Wintertagen,

In dunkler, hoffnungsloser Zeit,

Ganz aus dem Sinne dich geschlagen,

O Trugbild der Unsterblichkeit.

Nun da der Sommer glüht und glänzet,

Nun seh’ ich, daß ich wohlgetan;

Ich habe neu das Herz umkränzet,

Im Grabe aber ruht der Wahn

1

.

Der Dichter meint seinen Wahn, der die Wahrheit und das Lebens-

elexier war, begraben. Er sucht sich damit zu trösten, daß er eine

Erkenntnis, die Nichtigkeit des menschlichen Daseins, gewann, der

er nun heldenhaft ins Auge sehen müsse. Er vergißt aber, daß das

schlechthin Nichtige auch keine Erhebung durch die Kunst erfahren

könne; daß Goethes „Faust“ aus innerer Notwendigkeit ebenso

wie Dantes Göttliche Komödie im Himmel enden, wenn anders sie

als Kunstwerke nicht widersinnig sein sollen; daß in Shakespeares

Hamlet und Richard III. das Auftreten von Geistern die Unsterb-

lichkeit sinnfällig vorführt; daß Schillers Jungfrau mit den Wor-

ten

2

stirbt:

„Der schwere Panzer wird zum Flügelkleide.

Kurz ist der Schmerz und ewig ist die Freude.“

und daß die „Braut von Messina“ mit den auf das Postulat der

Unsterblichkeit (im kantischen Sinne) hindeutenden Worten endet:

„Das Leben ist der Güter höchstes nicht,

Der Übel größtes aber ist die Schuld.“

— und daß anders hohe Kunst überhaupt nicht möglich sei!

Gottfried Kellers großem Bildungsromane „Der grüne Hein-

rich“ war denn auch mit dem später erfolgten Verluste des Un-

sterblichkeitsglaubens die innere Grundlage einer Höherentwick-

lung entzogen, gleichsam das Herz aus dem Leibe gerissen. Das

vermochte durch kein äußeres Können, durch keine Meisterschaft

1

Wilhelm Lütgert: Die Religion des deutschen Idealismus, ..., S. 234.

2

Welche, wie auch die nächstfolgenden Verse Schillers, wegen ihrer licht-

und lebensvollen Tiefsinnigkeit hier nochmals angeführt sind.