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Man muß sich darüber klar sein: Der Halt und Hort des Rück-

verbundenheitsbewußtseins ist zu allen Zeiten und in allen Kulturen

der Unsterblichkeitsglaube. Auch ein abstrakter Gottesgedanke al-

lein kann das Rückverbundenheitsbewußtsein, das Bewußtsein der

Geborgenheit, nicht begründen.

In alten Zeiten konnte der Unsterblichkeitsglaube niemals und

bei keinem Volke fehlen, wie besonders die T o t e n v e r e h -

r u n g u n d d e r W i e d e r g e b u r t s g l a u b e beweisen. Auch

dort, wo Zweifel und Unglaube manche geistige Schichten ergriffen,

wie im klassischen Athen die sogenannten Sophisten, erlosch er im

Gesamtganzen der Kultur bei weitem nicht.

Erst in der Neuzeit sehen wir als Ergebnis der sogenannten

Aufklärung des achtzehnten, besonders aber des neunzehnten und

zwanzigsten Jahrhunderts den Unsterblichkeitsglauben in breiten

Schichten, daher auch in größeren Kreisen der Künstler dahin-

schwinden.

Dadurch ging aber der Kunst das Rückverbundenheitsbewußt-

sein mehr und mehr verloren!

Daß das Rückverbundenheitsbewußtsein das innerste Lebens-

geheimnis aller echten Kunst sei, hoffen wir nicht nur oben grund-

sätzlich gezeigt zu haben; auch die Geschichte der Kunst, beson-

ders aber die Geschichte der Dichtung seit Goethes Tod beweist es

nur zu deutlich.

Wäre das metaphysische und religiöse Leben, insbesondere aber

das Unsterblichkeitsbewußtsein seit jener Zeit nicht mehr und mehr

abgestorben, wir hätten einen Dichterfrühling erlebt, wie er selten

in der Geschichte zu finden war. Denn wie Großes hätten Byron,

Leopardi, namentlich aber der hochbegabte Hebbel, ferner Storm,

Gottfried Keller, auch Fontane, Freiligrath, Grabbe, Raabe, Anzen-

gruber und noch manche andere — Lenau z. B. war zuweilen

schwankend — leisten können; wie glänzend hätten sie die ihnen

angeborene Eingebungskraft nach dem Vorgange Goethes, Schillers

und der Romantiker entwickeln können, wären die inneren Vor-

aussetzungen dafür da gewesen, welche der Unsterblichkeitsglaube

verleiht.

Statt dessen sehen wir alle diese Dichter in ihrem Lebensmarke

getroffen. Ohne Unsterblichkeitsglauben verliert das Leben seinen

Sinn, die Sittlichkeit ihre letzte Begründung. Mit erschütternder