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C. L i e b e . G e s e l l i g k e i t
Das Neue und Eigentümliche, das bei der L i e b e d e r
G e s c h l e c h t e r zu jenen rein geistigen Verbundenheiten der
Freundschaft hinzutritt und das in der Wirksamkeit des / geschlechtlichen
Sinnes gegeben ist, verstärkt und vergrößert noch dieses erhabene Bild.
Was zwischen den Herzen der Liebenden schwebt, was wie die Sonne
über allem leuchtet und uns Mutter und Lehrer, Kunst und Natur zugleich
ist, jene geheimnisvolle Anziehung, die eine ganze Welt neuer
Empfindungen in uns wachruft, das fügt dem Gliederbau der Seele neue
Gestaltungen und Teile ein, es schafft, es gebiert damit einen ganz neuen
Menschen und offenbart so wieder jene s c h ö p f e r i s c h e n Kräfte, die
überall walten, wo Geist mit Geist in Berührung tritt, wie tausend Dichter
es immer wieder erzählt und gesungen haben. „Seitdem ist mir“, sagt
Tiecks Sternbald, „als wenn ein unbekanntes Wesen mir aus den
Morgenwolken die Hand gereicht und mich mit süßer Stimme bei meinem
Namen genannt hätte.“ „Beim Namen nennen!“ — das ist es eben, was die
Erweckung bedeutet, die aber nur möglich ist, wenn auch der Nennende
sich ermutigt, sich gleichfalls genannt fühlt. Denn was bei den Liebenden
mit solcher Gewalt wirkt, das gehört auch keinem von beiden allein an,
das setzen sie nicht, es einzeln habend, zusammen (gerade dies ist ja der
K a r d i n a l p u n k t , der allen Individualismus ausschließt, indem er
die Selbstherrlichkeit vernichtet); sondern es waltet über ihnen als Drittes,
Höheres, Übereinzelnes. Als Übereinzelnes aber ist es den von ihm neu
geschaffenen Empfindungen und Seelenkräften gegenüber zum Ersten,
Unableitbaren, zum Ganzen geworden, das begrifflich vor seinen Teilen
ist.
Gleiche Wirkungen wie Bekanntschaft, Freundschaft und Liebe zeitigt
die G e s e l l i g k e i t , welche ja nichts anderes als die Veranstaltung
(Organisation, organisierte Ansammlung) solcher Vorgänge geistigen
Austausches ist. Durch die, wenn auch noch so zarte und unbestimmte
Gebundenheit, durch die Sitte, sowie durch das Element der
Massenhaftigkeit, das neu hinzukommt, erhalten die geistigen
Beziehungen im Rahmen der Geselligkeit etwas andere Gestaltungen als
sonst. — Zunächst ist Geselligkeit nur scheinbar, wie es die
individualistische Auffassung nahelegen würde, ein Sich-