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um Schöpfer und Nachfolger (geistige Führerschaft und geistige
Gefolgschaft), um den Liebesbund der Geschlechter selbst, stets muß das
Grundverhältnis der Freundschaft darin eingeschlossen erscheinen.
Jeder hat das Wesen der Freundschaft an sich selbst erfahren.
L u d w i g T i e c k macht in seiner Novelle „Die Wundersüchtigen“ eine
Bemerkung, die sich auf Begegnungen in der Gesellschaft bezieht, die aber
auf den Freund am meisten paßt. Er sagt, daß man zuweilen Personen
begegnet, denen gegenüber man gewissermaßen eine Befreiung
gebundener geistiger Kräfte erlebt. Gedanken, welche sonst in der Geburt
ersticken oder denen sich mindestens das Wort nicht fügen will, treten
von selbst auf die Zunge, und Anschauungen, die unter anderen
Umständen sich nicht erschließen wollen, stehen wie unvermutet vor dem
Geiste. — So wird jeder, am meisten aber der schöpferische Geist dem
Freunde gegenüber empfinden.
Wählen wir die Freundschaft eines Musikers und eines Malers zum
Beispiel. Dieses Verhältnis ist durch das bestimmt, was sich die beiden
gegenseitig geben. Indem der Musiker dem andern die Welt der Musik
eröffnet, welche sich dieser aus eigener Kraft niemals öffnen könnte,
indem er dem Gefreundeten die großen Meister Beethoven und Mozart
nahe bringt, schenkt er ihm all die unendlich reiche Welt, die hier
verborgen ist. Dieser erfährt nun, empfindet nun, was Beethoven
empfunden hat, er stürmt mit ihm verwegen in Fragen und Zweifeln nach
dem Sinn der Welt, nach dem Grund und Boden dieses Lebens, er
empfindet mit ihm Trauer und Schmerz, wildes Höhnen, dann wieder
Vertrauen, ja die Ahnung und den überirdischen Glanz eines Höhern, das
hinter dieser Welt, in dieser Welt wohnt, und zuletzt den ausbrechenden
Jubel, im Leide selbst die Freude, die mit Donnergang dieser Welt Gewalt
gibt zu leben und zu werden. Auf solche Weise durchwandelt der
Gefreundete an der Hand seines Freundes das ganze große Reich des
Titanenlebens eines / Beethoven und das ätherische Reich eines Mozart.
Und wenn dann umgekehrt dem Musiker durch den Maler die Welt eines
Grünewald, eines Dürer, eines Schwind eröffnet wird und er Himmel,
Geist und Natur nun im Bilde schauen darf, da er es vorher nur in Tönen
konnte — was ist dann ein Freund dem andern? Der Freund ist dem
Gefreundeten das tägliche Brot geistigen Le-